September – Ewig

Der September steht bei uns im Zeichen der Meere. Es gibt viele Feiertage, die unsere Meere und Ozeane zelebrieren – so auch in diesem Monat. Was Wasser für uns bedeutet erforscht Carola Wolff in Mehr Meer, C. A. Raaven in Mehrweh und Maike Stein in … warum?

Ewig

Das Problem mit den Gianni-Schwestern war, dass die beiden nicht unausstehlich waren. Dass sie keine schrecklichen Menschen waren. Dann hätte es irgendein karmisches Gleichgewicht gegeben – sie wären zwar schlank, braungebrannt und zum Dahinschmelzen hübsch gewesen, aber immerhin nicht auch noch charmant und beliebt und absolut liebenswürdig.

Nina stützte ihren Kopf auf ihre Hand und seufzte leise. Trotz der kühlen Brise, die vom Meer stetig durch den Verschlag wehte, bildeten sich Schweißlaken unter ihrem T-Shirt. Die Gianni-Schwestern trugen ihre Neoprenanzüge an den Beinen, obenherum nur Bikinis – einer pink, einer lachsfarben – und grinsten, als könnten sie sich gar nicht wohler fühlen. Mit den langen, verwegen zerzausten Haaren und der makellosen Haut sahen sie aus wie Models. Wenn Nina auch einmal Gelegenheit hatte, sich in ihren Anzug zu zwängen, sah sie aus wie eine Robbe.

„Mal wieder auf Monsterjagd, was?“, schnitt eine scharfe Stimme durch ihre Gedanken.

„Wie jeden Tag.“ Nina gab sich Mühe, ihren Schreck hinter einem Lächeln zu verstecken. Manchmal glaubte sie, die alte Frau, die vor ihr stand, gäbe sich besondere Mühe, Nina aus der Haut fahren zu lassen. „Vielleicht haben wir ja heute Glück.“

Die Alte schnaubte. Insgeheim stimmte Nina ihr zu, aber das konnte sie nicht laut zugeben. Die Legenden über das mystische Unterwasserwesen, was angeblich hier in der Gegend sein Zuhause hatte, waren ein großer Teil dessen, was das Tauchcenter am Laufen hielt. Natürlich versprach niemand jemals, auf einer Exkursion das Wesen tatsächlich sichten zu können, aber der Flyer des Centers hatte nicht von ungefähr ein schemenhaftes Bild des Loch Ness Monsters mit Photoshop in den Ozean gezaubert.

Die Taucher, die ihre Exkursionen buchten, behaupteten alle, sie wüssten, dass es das Wesen nicht wirklich gäbe. Aber Nina hatte schon sehr oft ein verdächtig hoffnungsvolles Leuchten in ihren Augen gesehen.

Die alte Frau klopfte auf das Holz des Tresens. „Gehst du heute mit runter?“ Sie fragte es jeden Tag, und jeden Tag schüttelte Nina den Kopf. Sie war für die Buchhaltung zuständig, und die Emails, und die überzogenen Erwartungen. Die Gianni-Schwestern waren die Taucherinnen.

„Gehst du heute mit runter?“, fragte Nina zurück.

Auch hier würde die Antwort nein sein. Die alte Frau wohnte irgendwo im Ort und nutzte die Leiter, die hinter dem Tauchcenter ins Wasser hinunterführte, um sicher zwischen den Felsen ins Meer zu steigen. Solange Nina schon im Tauchcenter arbeitete, so lange kam die Frau schon jeden Morgen, in einem schimmernden Badeanzug und einem Handtuch über der Schulter, zum Schwimmen. Die Frau war alt, aber so fit, wie Nina noch nie in ihrem Leben gewesen war. Ihr Kreuz war so breit, dass sie jeden Luftkanister mit Leichtigkeit tragen würde. Wettergegerbte Haut kräuselte sich über muskulösen Beinen. Ihre Augen funkelten, als hätten sie schon alles auf dieser Welt gesehen.

Als eine der Schwestern der alten Frau zuwinkte, sah Nina auf ihre Knie hinunter, um nicht sichtbar die Augen zu verdrehen. Natürlich waren die Schwestern nach nur ein paar Monaten auf der Insel schon mit den Anwohnern dicke. Nina hatte nichts, was die beiden Schönheiten sich nicht innerhalb von kürzester Zeit ebenfalls angeeignet hatten.

Es war einfach nicht fair. Nichts davon. Als Niko zum Saisonanfang abrupt verkündet hatte, dass er die nächste Liebe seines Lebens kennengelernt hatte und nun auf die Nachbarinsel ziehen würde, um ihr näher zu sein, war Hoffnung in Nina aufgekommen. Seit Jahren arbeitete sie schon in diesem Schuppen. Sie konnte tauchen, sie hatte alle Scheine, sie kannte das Unternehmen in- und auswendig. Es wäre dumm von Rick gewesen, sie nicht zur Tauchleitung zu befördern. Blind.

Stattdessen war Rick keine Woche später mit den Gianni-Schwestern aufgetaucht, die mit den Kunden scherzten und auf den erbetenen gemeinsamen Selfies immer gut aussahen und trotz ihrer schlanken Arme ihre Ausrüstung umhertrugen, als wögen die Stahlkanister nicht mehr als eine Wasserflasche.

„Die beiden sind noch ziemlich neu hier.“ Die alte Frau am Tresen warf Nina einen bedeutungsvollen Blick zu. „Vielleicht würden sie sich über eine Freundin freuen.“

Nina schnaubte ein bisschen zu laut. „Ich würde mich auch über eine Freundin freuen“, sagte sie, als die Alte unbeeindruckt die Brauen hob. „Keiner hindert sie, mich zu fragen.“

Ungläubig sah die Alte sie an. Einen Moment lang glaubte Nina, die Frau wolle noch etwas erwidern, aber letztendlich schüttelte sie bloß den Kopf. „Weiber“, grummelte sie, hängte ihr Handtuch über ihre Schulter und verschwand hinter der Hütte.

Nina hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern, denn eine der Gianni-Schwestern – Alessa – kam schnurstracks auf sie zu. „Nina“, sagte sie leise. Sie faltete die Hände wie zum Gebet. „Kommst du mit? Die Gruppe ist heute riesig.“

Nina seufzte. Sie war schon so lange nicht mehr im Wasser gewesen – immer hatte Rick irgendetwas an Land für sie zu tun. Vorfreude loderte ungebeten in ihr auf. Aber sie schüttelte den Kopf. „Ich muss noch die Reservierungen fertig machen.“

„Die Reservierungen können auch noch zwei Stunden warten.“ Alessa machte große Augen. „Bitte? Es sind so viele heute und“, sie lehnte sich ganz nah zu Nina über den Tresen, „ich glaube, ein paar von denen rechnen wirklich damit, heute ein Unterwassermonster zu sehen.“

Nina wusste selber nicht, warum sie zögerte. Sie wollte ja tauchen. Das war alles, was sie wollte. Aber Rick … Er würde sie niemals zur Tauchleitung machen, wenn sie nicht das erledigte, was er ihr auftrug. Oder?

Sie sah aufs Meer hinaus, auf ihr geliebtes Meer. Zwischen den Felsen sah sie die alte Frau wieder, diesmal ohne Handtuch, die gerade wie selbstverständlich die Leiter ins Wasser hinunterstieg. Selbst Nina, die an dieser Küste aufgewachsen war, erschauderte immer noch jedes Mal, wenn sie die Füße ins kalte Wasser streckte.

Als bemerke sie Ninas Blick, sah die alte Frau noch einmal zum Tauchcenter zurück, um ihr einen bedeutungsschwangeren Blick zuzuwerfen.

Alessa sah sie noch immer mit flehenden Augen an.

Nina seufzte ergeben. „Gib mir fünf Minuten.“

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Eiskalt schlug das Wasser über Nina zusammen. Gierig sog sie einen tiefen Atemzug trockene Luft aus ihrem Kanister, während Salzwasser in den Kragen ihres Anzugs schwappte. Sie ruderte mit den Armen und trat mit den Flossen und kam sich dumm und unbeholfen vor, als sie durch ihre Brille sah, wie die geschmeidigen Schwestern mit ein paar Flossenbewegungen durchs Wasser zogen.

Dann hob sie den Inflator in die Höhe, ließ die Luft aus ihrer Tarierweste entweichen und vergaß die Schwestern vollkommen. Vergaß deren augenscheinliche Perfektheit, vergaß ihren eigenen Neid, vergaß ihre kurzen Beine und den Speck auf ihren Hüften und verlor sich in der Weite, die sich unter ihr auftat. Sonnenstrahlen durchstreiften das Wasser. Blaugrau und unendlich erstreckte sich das Meer in jede Himmelsrichtung.

Nina verhinderte mit ein paar geübten Flossenschlägen, dass sie auf dem sandigen Grund aufkam, und signalisierte den Schwestern ein Okay.

Schwerfällig setzte die Gruppe sich in Bewegung.

Die Trödler zeigten sich direkt beim ersten Riff – zwei dunkle Gestalten mit dicken Westen, die aufgeregt auf ein Seepferdchen zeigten. Nina ließ sie einen Moment starren, bevor sie sie der Gruppe hinterher scheuchte.

Eine Angelschnur hatte sich um eine der empfindlichen Korallen gewunden. Nina löste ihr Messer aus seiner Halterung und schnitt die Leine vorsichtig frei, dann wickelte sie sie notdürftig zusammen und steckte sie in ihre Tasche.

Als sie sich umdrehte, schwebte vor ihr das Wesen im Wasser.

Es war kein Monster und kein Tiefseefisch. Keine Meerjungfrau und kein Krake. Es hatte Gliedmaßen wie Seetang oder vielleicht Stoffschleier, die gespenstisch in der Strömung trieben. Einen vage menschlichen Körper, der doch so fremdartig war, dass niemand ihn mit einem Menschen verwechselt hätte. Sonnenstrahlen, die durchs Wasser schnitten, funkelten auf seinen Schuppen. Nina hatte noch nie in ihrem Leben etwas Derartiges gesehen, aber eines sie wusste sofort:

Dieses Wesen war alt. Uralt. Und mächtig.

Ein Strom kleiner Luftblasen, der aus Ninas Mund Richtung Oberfläche quoll, riss sie aus ihrer Starre. Obwohl sie es kaum wagte, das Wesen aus den Augen zu lassen, sah sie sich hastig nach ihrer Tauchgruppe um.

Um sie herum war nur graublaue Weite. Sie spähte in alle Richtungen, aber von den Tauchern in ihren schwarzen Neoprenanzügen war nirgendwo auch nur ein Umriss zu sehen. Sand und Felsen unter ihr, irgendwo über ihr die funkelnden Strahlen der Sonne. Sie war allein. Allein mit diesem Wesen.

Das hätte ihr Angst machen müssen. Das wusste sie. Ihre Tauchpartner zu verlieren war ohnehin ein Anfängerfehler von gigantischem Ausmaß. Sie hatte ohne Begleitung nichts in den Tiefen des Ozeans verloren. Und dann dieses Wesen. Entweder litt Nina an Tiefenrausch oder vor ihr glitt gerade tatsächlich ein gigantisches, mystisches Wesen durchs Wasser, dem vor ihr noch nie jemand begegnet war.

Beide Möglichkeiten waren gleichermaßen furchteinflößend.

Aber sie hatte keine Angst. Nein, sie war so ruhig wie schon lange nicht mehr. Ihr Luftkanister war ein vertrautes Gewicht auf ihrem Rücken. Die Strömung zog spielerisch an ihr, wie ein alter Freund. Ein einziger Flossenschlag reichte aus, um sie an Ort und Stelle zu halten.

Das Wesen betrachtete sie.  Es hatte trotz der Schuppen und Flossen menschliche Züge. Weise, alte Augen, die schon mehr gesehen hatten, als Nina es je erahnen konnte. Dieses Wesen war so ewig wie die Meere. Ninas Leben war für diese Kreatur kaum mehr als ein Lidschlag, und das wussten sie beide gleichermaßen.

Langsam, gemächlich, streckte das Wesen eins seiner Glieder aus. Schwimmhäute verbanden seine Finger miteinander. Seine Augen schimmerten in einem Grün, das Nina noch nie gesehen hatte. Funkelten. Aufmerksam. Interessiert.

Nina konnte gar nicht anders. Sie streckte die Hand nach dem Wesen aus. Warme, schuppige Finger schlossen sich um ihre, scharfe Krallen strichen harmlos über ihre Haut.

Das Wesen neigte den Kopf. Hab keine Angst, schien es ihr zu sagen, und Nina hatte keine Angst. Wie konnte sie Angst haben, wenn es in der Tiefe ihres Ozeans derartige Wunder gab?

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Es war laut an der Oberfläche. Wasser, das gegen den Rumpf des Boots klatschte, kreischende Möwen, Taucher, die, vom Rausch der Tiefe euphorisiert, Melonenscheiben und Wasserflaschen hin und her reichten und immer wieder von den gleichen Meerestieren, auf die sie flüchtige Blicke erhascht hatten, erzählten.

Nina nahm kaum etwas davon wahr. In Gedanken war sie noch immer tief unter der Oberfläche. In der ewigen Weite des Ozeans, Auge in Auge mit einem Wesen, das es eigentlich nicht geben dürfte. Das sich Nina gezeigt hatte, nur Nina. Niemandem außer Nina.

Ächzend zerrte Alessa neben ihr den Tauchstiefel von ihrem Fuß. „Danke nochmal fürs Mitkommen“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob wir all diese Leute ohne dich irgendwie unter Kontrolle behalten hätten.“

Nina, die nach ihrer Begegnung mit dem Wasserwesen die Gruppe eher zufällig wiedergefunden hatte, nickte verlegen. Den Rest der Tauchzeit hatte sie zwar brav das Schlusslicht gebildet, aber dass den Schwestern ihr Fehlen scheinbar nicht einmal aufgefallen war, verwunderte sie doch ein wenig.

Bianca Gianni, die ihnen gegenüber saß und sich gerade aus ihrem Neoprenanzug pellte, nickte. „Und dabei haben wir das Wassermonster nicht einmal gesehen.“

Alessa lachte. „Was eine Überraschung.“

Nina lächelte abwesend. Je länger die heiße Sonne auf ihre Schultern brannte, desto mehr verschwamm die Erinnerung vor ihrem inneren Auge. Hatte das Wesen Flossen gehabt, oder Krallen? War es wirklich so groß gewesen oder war das bloß die Verzerrung unter Wasser, Ninas Schrecken, ihre Einbildung?

Was nicht verging, war die Erinnerung an die Ruhe, die sie dort unten verspürt hatte. Die Stille. Der Hauch von Ewigkeit.

Bianca nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. „Die Tintenfische waren cool.“

„Das stimmt.“ Alessa warf Nina einen schnellen Blick zu. „Hast du da hinten noch etwas Spannendes gesehen?“

Mit einem stillen Lächeln schüttelte Nina den Kopf. „Nichts nennenswertes“, sagte sie. Holte tief Luft. Hab keine Angst. „Sagt mal, hättet ihr Lust, mal zum Grillen vorbeizukommen? Mir ist vorhin aufgefallen, dass ich meinen den ganzen Sommer noch nicht einmal angeschmissen habe.“ Ihr Herz pochte bei ihren Worten, aber sie lächelte dabei.

Die Schwestern sahen erst sich, dann sie mit leuchtenden Augen an. „Total gerne“, versicherte die eine, „Ja, auf jeden Fall“, die andere.

Nina hoffte inständig, dass man ihr nicht ansehen konnte, wie erleichtert sie war. Sie wusste nicht, was sie gesagt hätte, wenn die Antwort nein gewesen wäre. „Cool“, murmelte sie. Wenn es eine Begegnung mit einem Unterwassermonster brauchte, damit sie jemanden zu sich nach Hause einlud, war das dann ein schlechtes Zeichen?

Alessa lehnte sich gegen die Reling. Der Wind spielte mit ihrer wilden Mähne. „Wir müssten eigentlich mal mit Rick reden“, sagte sie zu ihrer Schwester. „Es ist echt viel entspannter, wenn noch jemand dabei ist, um die Truppe beisammenzuhalten.“

Die andere nickte inbrünstig. „Weißt du noch neulich, als dieser eine Typ sich immer heimlich wegschleichen wollte? Zum Kotzen.“

Alessa verdrehte die Augen. „Der, der uns immer in den Ausschnitt geguckt hat?“

Nina ließ die beiden Schönheiten Schönheiten sein und sah hinaus auf die Wellen. Der Motor des Boots dröhnte unter ihr, aber es war ein beruhigendes Gefühl, so vertraut wie das Auf und Ab der Wellen und der Sog der Strömung. Egal, wie es mit ihr weiterging – hier war sie Zuhause. Über ihr die Sonne und die Möwen; die beiden strahlend schönen Gianni-Schwestern an ihrer Seite. Unter ihr der Ozean, mit seinen Strömungen und Gezeiten, seinen Abgründen und seinen Tücken, mit seinen Geheimnissen und seiner Ewigkeit.