August – Der Schöpfer aller Dinge

Im August gab es beim phantastischen Montag zum ersten Mal ein zweigeteiltes Thema – wir konnten uns zwischen dem Frankenstein-Tag (Mary Shelleys Geburtstag am 30.08.) und dem Tag der Verschwundenen (31.08.) entscheiden. Die entstandenen Geschichten sind: Vicky von Carola Wolff, Resurrection reloaded von C. A. Raaven und Nachtlauf von Maike Stein. Und der dritte Gastbeitrag des Jahres ist Swantje Niemanns Kurzgeschichte.

Der Schöpfer aller Dinge

Ich habe ein Monster erschaffen.

Es war nie meine Absicht – wie könnte das meine Absicht sein? Mit bestem Wissen und Gewissen kam ich auf diese Welt; versuchte, meine gottgegebenen Fähigkeiten zu etwas Gutem zu nutzen. Ich hatte die besten Absichten. Dass er aus diesen Absichten Schreckliches machen würde, dass er meine guten Vorsätze zu purem Grauen verdrehen würde – woher hätte ich das wissen können?

Aber Unwissenheit schützt nicht. Nicht vor Missetaten, nicht vor Konsequenzen, nicht vor dem Blick in den Abgrund. Weder dem eigenen Abgrund, noch dem der anderen.

Seit Tagen fehlt von ihm jede Spur – seit Tagen drehe ich Kreise in den unendlichen Wäldern, klettere auf jeden Felsen, spähe in jede Tiefe in der Hoffnung, zwischen toten Blättern und Dornen auch nur die kleinste Spur von ihm zu erhaschen. Ich krieche durch die Hecken auf der Suche nach einem Fetzen seiner Kleidung, bürste Schlamm und Schleim beiseite, um darunter eine Fußspur zu entdecken, aber meine Mühen bleiben erfolglos. Er ist verschollen, mein Monster. Verschwunden im Nichts der unendlichen Weite.

Er war nicht als Monster geboren worden. Zu Beginn lebten wir einträchtig nebeneinander her – ich mit meinen Aufgaben, er mit seinen. Er stellte mir Fragen, die ich bereitwillig beantwortete, und im Gegenzug beantwortete er meine. Wir lernten voneinander. Wir wuchsen miteinander.

Es gab keinen Moment, der das änderte. Keinen Umbruch. Seine Stimmung, sein Bild von mir änderte sich so allmählich, dass ich es erst bemerkte, als es schon viel zu spät für ihn war. Das vergötternde Leuchten, das seit dem ersten Tag in seinen Augen glänzte, wenn er mich ansah, erlosch. Wenn die Menschen im Ort schlecht über ihn oder mich oder uns sprachen, zuckte er zusammen. Wenn die Nachricht kam, dass diese Menschen kurz darauf verstorben waren, wollte er mir nicht in die Augen sehen. Er wurde immer karger und er zog sich immer weiter zurück.

Das Haus wurde still um uns. Die Bibliothek verstaubte, die Werkstatt erstarb. Die Schöpfung ruhte. Wenn ich mich, in Anflügen von Mitleid, von Demut, auf die Suche nach ihm machte, fand ich ihn in den finstersten Winkeln. Zusammengekrümmt und in die Schatten zurückgezogen, mit bösen Augen und einem grausamen Zug um den Mund.

Ich weiß bis heute nicht, was ihn derart verändert hat. Was Schuld daran war, dass ich entthront wurde in seinen Augen. Hilflos musste ich zusehen, wie er sich immer weiter von mir zurückzog. Wie er begann, finster vor sich hin zu murmeln, wenn er mich sah, mich zu beleidigen und mir mit Vernichtung zu drohen. Ich konnte nichts tun. Tatenlos. Ich konnte ihn nur anflehen – nur meine Texte durchsuchen nach einer Lösung, die ich nicht finden konnte, denn wer hatte schon einmal ein Monster erschaffen?

Es half alles nichts. Ich versuchte es wieder und wieder, und wieder und wieder wich er fauchend vor mir zurück, bis er dann eines Nachts mit dem Messer auf mich losging – ein irres Leuchten in den Augen, als sei nicht einmal ein Funken Menschlichkeit in ihm zu finden. Mit Mühe schaffte ich es, die Klinge aus seinen Händen zu schmettern; schützte mich mit meinen Büchern vor seinen klauenartigen Fingern, bis er sich geschlagen gab – ein Fenster zerschlug und, mit blutigen Händen und nichts außer der Kleidung an seinem Leib, in der Finsternis verschwand.

Ich wartete lange – zu lange – bis ich mich auf die Suche machte. Wartete lange, schlaflose Tage und Nächte. Es folgten viele weitere, lange Tage und Nächte; in den Bergen, in den Wäldern, in Tälern und Dörfern; überall, wo jemand auch nur glaubte, vielleicht in der Ferne eine Spur von ihm gesehen zu haben. Sie berichteten mir alles, und sie zitterten dabei.

Es war kalt, als ich ihn endlich fand. Der Mond war eben über die Baumwipfel gestiegen, voll und rund. Er bleichte alles mit silbrig-fahlem Licht. Zwischen den Bäumen ragte das Gerippe eines Zeltes in die Höhe. Mein Herz – mein altes, abgenutztes Herz – machte einen Satz, als ich es sah. Ich hatte ihn gefunden. Nun musste ich ihn nur noch nach Hause bringen.

Ich schrak zusammen, als ich ihn aus dem Unterholz treten sah, auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ. Ruhe musste ich bewahren. Den Anschein von Kontrolle.

Aber es war nicht leicht, denn er sah fürchterlich aus. Grauenhaft. Sein schwerer Mantel war zerschlissen und zerfetzt. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Haare filzig und zerzaust. Sein Bart hing von seinem Kinn.

„Was willst du?“, fragte er, und seine Stimme war rau.

Behutsam streckte ich die Hand nach ihm aus. „Dich finden“, sagte ich, sanft wie zu einem Tier. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich alles getan habe, um dich zu finden.“

Er trat einen unwillkürlichen Schritt zurück. Als ich näherkommen wollte, hob er abwehrend die Hand. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, was du alles getan hast, denke ich.“

„Es bedeutet nichts“, erwiderte ich. Ich hätte alles getan, um ihn zu finden.

„Es bedeutet alles.“ Er fuhr sich durch die Haare, über das schmutzige Gesicht. „Ich hätte dich aufhalten sollen, als ich die Gelegenheit hatte. Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen.“

„Ich bereue nichts“, sagte ich. Es war die Wahrheit. „Was ich getan habe, habe ich für dich getan. Weil das das ist, was Menschen tun. Sie opfern füreinander.“

Er schnaubte bloß. „Du bist eine Kreatur. Meine Kreatur. Du bist kein Mensch, du bist ein Fehler.“

Ich zuckte zusammen, doch das verlieh seinen Worten nur noch mehr Feuer.

„Sieh dich doch nur einmal an.“ Er wies auf meine hünenhafte Gestalt. Auf mich. „Du bist ein Experiment – eine Maschine aus unpassenden Teilen. Egal, wie fein du dich kleidest, wie sorgsam du dich hältst, du wirst niemals ein Mensch werden können.“

Ich lächelte; ein trauriges Lächeln. „Bin ich nicht von Menschen geschaffen, genau wie du?“ Ich erinnerte mich noch so klar an die ersten Tage – wie er behutsam über meine langen Glieder strich, gleichzeitig väterlich und fasziniert. Ein selbstverliebter Schöpfer. Wie er an meiner Seite blieb in jenen ersten, verwirrenden, furchteinflößenden Momenten, in denen ich ein Säugling war in einem erwachsenen Körper, zu schwach für meine Gliedmaßen, zu stark für meinen Geist. Der Schöpfer meiner ganzen Welt, meines ganzen Selbst, und nun konnte er es kaum mehr ertragen, mich anzusehen. War er es, der mich geschaffen hatte, oder hatte ich, mit meiner Unvollkommenheit, nicht eher ihn geschaffen?

„Wie kannst du es wagen, uns auf eine Stufe zu stellen?“, brachte er über blutige Lippen. „Keinen Anstand, keine Moral – du bist eine Verhöhnung aller Menschlichkeit.“ Er wandte sich ab, schüttelte wild den Kopf. „Es hätte dich niemals geben sollen.“

Seine Worte schmerzten, aber nur noch wenig. Eine seltsame Ruhe hatte Besitz von mir ergriffen. „Vielleicht“, gab ich zu. „Vielleicht bin ich nicht das, was Gott oder das Universum oder die natürliche Ordnung der Dinge vorgesehen hat. Vielleicht bin ich dein schlimmster Fehler.“ Langsam hob ich den Blick, um ihm fest in die Augen zu sehen. „Aber es gibt mich.“

Er zuckte zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Sein Blick sprang in der Dunkelheit umher, blieb an Bäumen und Felsen und Unterholz hängen, aber niemals an mir. Als würde ich verschwinden, solange er nur meine Existenz nicht anerkenne.

Ich fuhr mir über die narbenzerklüftete Kopfhaut. Ich konnte ihn nicht retten, das wurde mir bitterlichst klar. Meine Existenz hatte aus einem angesehenen, intelligenten, analytischen Mann ein wahnsinniges Monster gemacht, und nichts, was ich tat, würde das ungeschehen machen.

Ich wandte mich zum Gehen. Es gab nichts, was ich noch sagen konnte. Ich konnte nichts mehr tun.

„Sie werden dich niemals akzeptieren“, rief er mir hinterher.

Als ich mich umdrehte, hatte er die Arme verschränkt, die Hüfte schräg gestellt, wie ein Halbstarker, dem seine eigene Dreistigkeit nicht ganz geheuer war. In seinen verkrampften Schultern, in seinen bösen Augen war keine Freundschaft, kein Mitgefühl, keine Väterlichkeit zu finden. Der Schöpfer aller Dinge war an seinem eigenen Können zugrunde gegangen.

„Vielleicht“, sagte ich. Der Gedanke jagte mir keine Angst ein. „Aber ich akzeptiere mich. Wie steht es bei dir?“

Er schwieg. Er schwieg, und ich ging.

Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Seine abgemagerten Glieder, bleich im Mondlicht. Seine zusammengekauerte Gestalt. Ein Monster in der Nacht; ein Kinderschreck, mit dem man des Abends den Nachwuchs ins Bett treibt. Schutzlos ließ ich ihn zurück.

Ich bin nicht stolz darauf. Aber unsere Entscheidungen sind gefallen.

Wir alle müssen für unsere Taten geradestehen. Wir müssen unseren Fehlern ins Auge blicken. Ihnen zunicken. Sie anerkennen als Lebenserfahrung, die wir bereuen, denn es ist unmöglich, die Vergangenheit ungeschehen zu machen. Wir können nur nach vorne sehen.

Trotz all seiner Intelligenz, all seines Genies, hat er das nie verstanden. Er kann mich nicht mehr aus der Welt schaffen. Ich bin hier. Ich bin da. Es geht nicht mehr zurück.

Ich ließ ihn zurück in den Wäldern, hilflos und allein, und das war mein Fehler. Aber sein Fehler war es, mich auslöschen zu wollen. Sich dem Grauen nicht zu stellen. Seine Kreatur nicht anerkennen zu wollen, mit all ihren glorreichen Fehlern, und so hat er sich selbst um den Verstand gebracht. So muss ich ihn hinter mir lassen, verbittert und allein. Denn wenn er nicht mit mir in die Zukunft schreiten kann, dann muss ich ihn zurücklassen – meinen Schöpfer, meinen Vater, mein Monster.