Juli – Lass uns zu den Sternen reisen

Der 30. Juli ist der internationale Tag der Freundschaft. Dazu gibt es von Carola Wolff Des Rätsels Lösung, von C. A. Raaven Where no man has gone before und von Maike Stein Bis wir uns wiedersehen.

Lass uns zu den Sternen reisen

Auf der Steuerkonsole blinkten Lichter; manche orange, andere grün. Die Luftfilter rauschten leise. Marius zog sich seine standardisierte Multifunktionsjacke fester um die Schultern, denn im Weltall war es kalt.

„Dieses Lied, das du so gerne magst“, sagte er. „Wie ging das doch gleich?“

Lass uns zu den Sternen reisen.“ Clifford hatte eine ruhige, beruhigende Stimme. Begeisterung schwang darin mit, als prompt die ersten Töne aus den Boxen drangen. Marius grinste zu den Sternen hinauf, ohne sich nach ihm umzudrehen; verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte die Füße auf die Konsole.

„Ja also“, schimpfte Clifford. Dann lenkte ihn der einsetzende Gesang ab. „Lass uns zu den Sternen reisen“, hörte Marius ihn trällern. Er wippte mit dem Fuß und pfiff ein paar Takte mit, während Clifford in seiner Begeisterung immer lauter (und schiefer) wurde.

Zwischen den Planeten kreisen …

Drinnen löste Marius den obersten Knopf seiner Jacke. Draußen zogen still und kalt die Sterne am Sichtfenster vorbei.


Clifford lenkte sie durch den Asteroidengürtel, als wäre er dafür gemacht – das Schiff glitt so sanft dahin, dass Marius nicht einmal seinen Kaffeebecher festhalten musste, während er auf seiner Schlafkoje lag. Der Kaffee half nicht beim Schlafen, dafür aber gegen die Kälte, die an seinen Knöcheln und Handgelenken entlang unter seine thermo-isolierte Kleidung kroch.

Es war kalt im Weltall. Immer kalt. Er hatte den Überblick verloren, wie lange sie schon durch die Schwärze zogen, begleitet vom leisen Rauschen der Lüftung und dem immergleichen Lichtschimmer jenseits der Fenster. Marius wusste, dass es andere Sterne waren als vor ein paar Monaten, vor ein paar Jahren, aber es war ein intellektuelles Wissen. Er konnte die Lichter nicht unterscheiden. Wenn ihm jemand gesagt hätte, es wären dieselben Sterne wie bei ihrem Aufbruch, er hätte es geglaubt.

Peter hatte sich mit Sternen ausgekannt – mit Himmelsbildern, mit Galaxien. Anneli mit Physik. Gianetta hatte Elektrik gelernt und Marius gezeigt, wie er die Heizung in seiner Koje höher drehen konnte als vorgesehen. Aber irgendwann hatte Marius das System neu laden müssen und ihre Modifikation dabei gelöscht, und er wusste nicht, wie er sie neu installieren konnte.

Es hatte noch andere gegeben – Namen und Gesichter, die er langsam vergaß. Zwei Hannahs: eine schwarz, eine weiß. Ein junger Mann mit zwei Augenfarben. Menschen, denen er in den hell erleuchteten Gängen zugenickt hatte. Phantome, an die er sich nur noch schemenhaft erinnerte, die weißen Böden und Wände und Decken lang und leer und kalt.

Marius zog seine Ärmel bis zu den Knöcheln hinunter. Der Funkknopf war auf Augenhöhe. „Hey, Clifford?“, sagte er in die Stille.

Der Lautsprecher daneben erwachte knisternd zum Leben. „Marius? Wie kann ich helfen?“

Der Klang der vertrauten Stimme löste den harten Knoten in seinem Nacken. Der Becher mit dem Kaffee stand vor ihm, aber Marius steckte seine Hände in seine Ärmel und griff nicht danach. Wenn Clifford nicht wäre – er wüsste nicht, was er dann tun würde. Wenn er der einzige wäre. Hier draußen. Allein.

Seufzend drehte er sich auf den Rücken. „Wie sieht es aus da draußen?“

„Alles bestens“, berichtete Clifford. Er klang unbesorgt. „Ein paar Tage noch, dann ist es geschafft.“

„Du bist der Beste“, sagte Marius.

Clifford schnaubte vergnügt. „Ich weiß.“

Marius schüttelte den Kopf. Wenn Clifford nicht wäre … Aber Clifford war da, seine Stimme besänftigend amüsiert, seine Navigation sicher und gekonnt. Marius zog die dünne Decke mit den hi-tec Fasern bis an seine Nase. Vielleicht lieber schlafen als Kaffee.

„Lichter aus“, murmelte er.

Pechschwarze Dunkelheit fiel augenblicklich über ihn herein, aber nach all der Zeit war er es gewohnt. „Nur du und ich, Kumpel“, murmelte er. „Was für ein Leben.“

„Es gäbe keinen Ort, an dem ich lieber wäre“, war Cliffords Antwort. Marius vermutete, dass das eine Lüge war, aber er schloss trotzdem die Augen.


„Clifford, haben wir noch welche von den Schoko-Nuss-Riegeln?“ Marius durchwühlte den Schrank ein zweites Mal. Waren da nicht noch irgendwo …? Aber nein. Nur ein leerer Karton.

Cliffords Stimme kam mild über den Lautsprecher. „Welche Schoko-Nuss-Riegel?“

„Wir haben nur eine Sorte.“ Seine Lieblingssorte. Die Sorte, die er sich extra aufsparte und nur dann aß, wenn er besonders (un)glücklich war, und er konnte trotzdem keinen einzigen mehr finden. Er hatte vor ein paar Wochen eine Schachtel geleert, aber er war sich so sicher gewesen, dass sie noch mindestens eine auf Lager hatten.

„Wir haben mit 200 Schachteln Schoko-Nuss-Riegeln den Heimathafen verlassen“, berichtete Clifford nach einem Moment. „Zusammen mit -“

„Das weiß ich alles“, knurrte Marius. Er sank gegen die Kunststoffverschalung des Speiseraums. Zu seinen Füßen häuften sich die eingeschweißten Mahlzeiten – dehydrierte, zusammengepresste, graubraune Blocks, mit Zusatzstoffen für den menschlichen Körper optimiert. Manche waren besser als andere, aber keine davon waren schlecht. Natürlich hatten sie von Eisbechern geschwärmt und von Pizza direkt aus dem Steinofen und den nostalgischen Süßigkeiten ihrer Kindheit, er und die Crew, aber niemand hatte wirklich über die Nahrung geklagt. Auch nicht über die Menge. Mit fast zwanzig Mann waren sie losgezogen, damals. Die Vorräte sollten sie über Jahre versorgen.

Und das hatten sie auch – erst recht jetzt, wo es nur noch er und Clifford waren. Aber Jahre vergingen. Noch hatten sie genug – genug, sodass die Schränke überquollen, wenn man sie öffnete – aber eines Tages würden sie es nicht mehr tun. Eines Tages würden ihre Vorräte zur Neige gehen, und dann? Was würde Marius tun, wenn er nichts mehr zu essen hatte und um ihn herum nichts war außer kaltem, leeren All?

„Clifford?“, fragte er heiser.

„Nach meinen Berechnungen sollten die Vorräte noch 19,447 Tage ausreichen – bei notfallbedingter Rationierung sogar 23-“

„Clifford!“

Die Stimme verstummte.

Marius hielt die leere Packung noch immer in den Händen. Er schloss die Augen, aber das machte alles nur noch schlimmer. Stotternd atmete er aus. „Was sollen wir tun?“ Der dünne Karton bog sich unter seinen kalten Fingern. „Clifford, was sollen wir nur tun?“

Cliffords Stimme war unbedarft. „Wir haben noch Schoko-Riegel ohne Nuss und Nuss-Riegel ohne Schoko.“

Marius schleuderte die Packung zurück in den Schrank. „Kannst du bitte wenigstens so tun, als wäre das für dich relevant?“

„Bitte entschuldige, Marius”, sagte Clifford mit seiner sanften Stimme. „Als künstliche Intelligenz fällt es mir schwer, auf irrationale menschliche Emotionen empathisch zu reagieren.“

Marius ließ den Kopf gegen den kühlen Kunststoff des Vorratsschranks sinken und seufzte leise. „Ich weiß“, murmelte er.

Einen Moment waren sie still. Die Luftfilter rauschten leise. Marius zog sich seine standardisierte Multifunktionsjacke fester um die Schultern, denn im Weltall war es kalt. „Dieses Lied, dass du so gerne magst“, sagte er schließlich. „Wie ging das doch gleich?“