Juni – Weiße Nacht

Im Juni geht es beim Phantastischen Montag selbstverständlich um die Sommersonnenwende. Es gibt zu Lesen: Carola Wolffs Kleine Teufelei, C. A Raavens Wendepunkt und Maike Steins Drachenwende. Und außerdem bietet der Juni mit seinen fünf Montagen wieder einen Gastbeitrag: Christina Löws Eine Fee auf Menschenbesuch.

Weiße Nacht

Ihre Stiefel klapperten auf den ausgedienten Bohlen des Piers. Tírson ging zu schnell für Willas kurze Beine, das wusste er, aber er konnte nicht anders. Jahre hatte er auf diesen Tag gewartet. Jeder Schritt, der ihn noch von seiner Anlegestelle trennte, war ein Schritt zu viel.

„Ich verstehe eben nicht“, japste Willa hinter ihm, „warum das alles heute sein muss.“

Tírson warf einen Blick über seine Schulter. „Du weißt genau, warum es heute sein muss.“

Willa schnaubte. „Du bist noch nie zu Mittsommer geflogen.“

„Natürlich bin ich das.“

„Nicht alleine.“ Als er stehenblieb, holte sie ihn endlich ein; sie stemmte die Hände in die Hüften und schnaufte.

Tírson schenkte ihr ein Grinsen. „Zum Glück bin ich nicht allein.“ Er entriegelte eine der Pforten im Geländer, die zu den Anlegestellen hinausführten. Dahinter war der Korb eines Luftschiffs am Pier fest getäut. Zwischen dem Holzsteg und dem Schiff waren einige handbreit Luft. Man konnte hunderte Meter in die Tiefe sehen, hinab bis auf die Brandung, die unscheinbar gegen die Felsen der Insel schlug. „Du kommst doch mit auf unsere Jungfernfahrt?“

Willa blieb mit ungläubiger Miene auf dem Pier, hinter dem schützenden Eisengeländer, stehen. „Du hast die Ilmatar gekauft? Warum?“

„Weil der alte Joni keine Verwendung mehr für sie hatte.“ Tírson hatte trotzdem mehrere Tage gebraucht, um den Alten zu überreden, aber das tat ja nichts zur Sache. „Und wenn ich ein Schiff kaufe, warum dann nicht eins, das ich schon dutzende Male geflogen bin?“

Er rutschte in den Korb und hielt ihr die Hand entgegen.

Willa verdrehte die Augen. „Ich meinte, warum hast du überhaupt ein Schiff gekauft? Als Jonis Pilot hast du doch die gleiche Arbeit.“

„Aber nicht mein eigenes Schiff.“ Als sie immer noch nicht einstieg, wandte Tírson sich ab. Er strich mit der Hand über die Steuerkonsole mit all ihren Hebeln und Schaltern, ihren Beulen und Kratzern. Er hatte sich schon immer ein eigenes Schiff gewünscht. Und es lag nicht bloß daran, dass das tückische Meer zwischen den Inseln Luftschiffe unumgänglich machte. Denn wer jemals seinen kleinen, schroffen Felsen verlassen wollte, der musste eben nach oben ausweichen.

Nein, es war das Gefühl. Dieser Satz, den sein Magen machte, wenn der Ballon an seinen Verstrebungen zerrte. Als könne er es kaum erwarten, sich endlich in den Himmel zu heben. Das Wissen, dass unter ihm nichts war außer Luft und Wasser und darunter reißende Strömungen und verborgene Riffe, und sich nicht davor zu fürchten, sondern sich geborgen zu fühlen im geflochtenen Korb des Schiffs und seinem eigenen Können.

Das Wissen, dass Willa an seiner Seite war und all das mit ihm teilte.

Noch einmal streckte er die Hand nach ihr aus. „Die weißen Nächte“, erinnerte er sie. „Mittsommer. Du und ich und mein erstes eigenes Schiff.“

Dieses Mal griff Willa zu.

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Die Sonne neigte sich bereits deutlich Richtung Horizont, als Willa seinen Namen rief. Tírson bürstete den Sand von seinen Knien; sein Schatten zog sich meterlang den Strand hinunter.

Sie waren auf einer der kleinsten, nördlichsten Inseln zwischengelandet, um sich auf den Abend vorzubereiten – auf die Nacht, auch wenn es nur dämmrig werden würde. Die Sonne griff bereits nach dem Horizont, obwohl sie ihn heute nur wenige Stunden überschreiten würde.

Dafür würden Fackeln das Dämmerlicht erhellen – wie jedes Jahr, und doch jedes Jahr neu. Tírson hatte seine Leuchte an einem langen Stab befestigt, so dass er sie am Schiff anbringen konnte, ohne den Ballon zu gefährden. Die anderen Vorbereitungen hatte Willa übernommen. Außerdem hatte sie sich umgezogen und gewaschen, von ihrem rot geschrubbten Gesicht zu schließen. Ihr weißes Kleid flatterte im Wind. Die Haare hatte sie zurückgebunden; eine Blumenkrone saß auf ihrer Stirn.

Verlegen wandte sie sich ab. „Bist du so weit?“, fragte sie.

Tírson folgte ihr die Düne hinauf, durch die kargen, blassen Gräser. Warmer Sommerwind blies ihm durchs Haar. Die Fackel in der Hand, Willa an seiner Seite, blieb er auf der Anhöhe stehen und sah auf sein – sein – Schiff hinunter.

Die Ilmatar wartete in einer Senke auf ihn, ihr Ballon prall gefüllt und an den Seilen zerrend. Tírson spürte, wie ein Grinsen sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Willa hatte ganze Arbeit geleistet. Jedes Tau des Luftschiffs war großzügig mit Blumen bestückt. Blättergirlanden bedeckten den Rand des Korbs und lagen, in flatternden Bändern, auf dem Sand. Während die Ilmatar zuvor wie eine alte, ausgediente Klapperkiste gewirkt hatte, glänzte sie jetzt im Abendlicht wie neu.

„Gefällt es dir?“, fragte Willa.

Er nickte stumm. Plötzlich kam er sich schäbig vor, in der gleichen ledernen, winddichten Kleidung wie immer. Als hätte der Moment mehr Andacht verdient.

„Ich habe dir auch etwas mitgebracht. Wenn du möchtest.“ Als er sie ansah, wurde sie rot. Hastig schwang sie ihre Beine ins Innere des Korbs, vorsichtig bedacht, die Girlanden nicht unnötig einzudrücken. Tírson folgte ihr. Er hatte mit seinen langen Beinen weniger Mühe, aber zu zweit war es in dem schmalen Schiff doch etwas gedrängt.

Vorsichtig klappte Willa ihren Proviantkorb auf und holte einen zweiten Kranz hervor, dieser eine ausladende Krone aus saftgrünen Eichenblättern. Tírson stand sehr still, während sie sich auf die Zehenspitzen erhob – ihre Lederstiefel lugten unter dem Saum des Kleids hervor – und den Kranz auf seine Haare drückte.

„Da“, sagte sie leise. Sie trat einen Schritt zurück.

Tírson machte einen Schritt nach vorn. „Danke“, flüsterte er. Er beugte sich zu ihr hinunter, aber eine Bewegung über ihm ließ ihn innehalten, sich umsehen. Die ersten Schiffe hoben sich in den blass-bunten Himmel, begleitet von Gelächter und Geschrei. Tírsons Magen machte einen Satz. Es war so weit.

„Leinen los!“, rief er. Willa löste ein paar Taue, er die anderen, und dann stieg das Luftschiff in die Höhe, als gäbe es kein Halten mehr, stieg und stieg und eilte dem Abend entgegen.

Die Insel, auf der sie halt gemacht hatten, war schnell nur noch ein kleiner Fleck im blauen Wasser. Unscheinbar wogte das Meer zwischen den Felsen. Wenn man das Donnern der Wellen nicht hörte – wie sie versuchten, die Klippen ins Meer zu reißen – verlor die weiße Gischt ihren fürchterlichen Bann.

Von den Nachbarinseln stiegen weitere Schiffe in die Luft. Kleine, schnittige Zweisitzer mit wehenden Blätterschweifen kreuzten hoch über der Ilmatar, glänzend im wolkenlosen Himmel. Schwerfällige Fähren, die drei Ballons benötigten, um überhaupt in die Höhe zu klettern, blieben unter ihnen. Tírson konnte die Passagiere sehen, die dicht gedrängt am blumengeschmückten Geländer standen. Kleine Familienschiffe, mit gerade genug Platz für ein paar Bänke, trieben mit Signalleuchten ausgestattet an ihnen vorbei. Kleine Hände winkten ihnen. Willa winkte aufgeregt zurück.

Eins der Passagierschiffe, die Ballons dunkelrot, zündete als Erstes sein Feuer. Am Bugspriet leuchtete eine funkende Fackel auf, von Jubel und Applaus begleitet. Das Heck war ähnlich ausgestattet; dort flammte das Licht als Nächstes auf.

Ein privates Schiff folgte hinterdrein, mit funkensprühenden Flammen am blütengespickten Mast. Jubel sprang von Schiff zu Schiff, während mehr und immer mehr Feuer aufflackerten – mal am Bug, mal am Heck, mal in eigenen Vorrichtungen oder vorsichtig am Schiff angebracht. Mit Willas Hilfe befestigte Tírson auch ihre Fackel an der Außenseite seines Schiffs, damit sie sie – ermutigt vom Beifall der Schiffe um sie herum – lichterloh in Brand setzen konnten.

Tírson hatte ein Auge auf die Fackel, eine Hand am Ruder, während das Luftschiff in die Höhe stieg. Willas Blättergirlanden trieben im Wind. Die Eichkrone saß schwer auf seinem Kopf. Die felsigen Inseln wurden immer bedeutungsloser unter ihnen, die Feuer mehr und doch kleiner, verstreut am ganzen, sich verdunkelnden Himmel. Wie ein Meer von Sternen, weit entfernt und doch zum Greifen nah.

Willa drehte so hastig den Kopf von hier nach da, dass die Blumenkrone ihr in die Stirn rutschte. Der ganze Korb geriet ins Wanken, als sie sich lachend an die Brüstung warf. „Hast du schon jemals etwas so Schönes gesehen?“

Tírson legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich, um sie zur Ruhe zu bringen, bevor sie sein ganzes Schiff zum Kentern brachte. Sein Schiff. Er vergrub sein Grinsen in ihrem Haar.