Mai – Ein passendes Paar

Der 9. Mai ist seit 1998 der internationale Tag der verlorenen Socke – und bei einem solchen Thema können wir natürlich nicht widerstehen.

Carola Wolff schrieb dazu Seine letzte Masche, C. A. Raaven Worst case scenario und Maike Stein Sockenfrieden 2020.

Ein passendes Paar

Irgendetwas stimmte mit der Waschmaschine nicht.

Julian kannte das Problem, wenn man ein Sockenpaar in die Waschmaschine warf und eine traurige Single-Socke wieder hervorholte. Die Waschmaschine, das hatte er in seinen langen Jahren des Erwachsenseins und Alleinlebens gelernt, war das Ende jeglicher zwischensockiger Bindung. Eine größere Zerreißprobe eines Paares als Weihnachtsbaumkauf oder IKEA. Wer seine Socken in die Waschmaschine warf, musste in Kauf nehmen, den Rest seines Lebens ungleiche Paare an den Füßen zu tragen.

Was er noch nie erlebt hatte, war, dass man eine zusätzliche Socke in der Waschmaschine fand.

Und doch. Da war sie – eine Socke, die Julian ganz sicher nicht gehörte. Hellblau mit quietschgelben Enten und grünem Schilfrohr darauf. Julian, der an einem Fuß eine weiße und am anderen eine schwarze Tennissocke trug, hatte noch nicht einmal gewusst, dass solche Socken in Erwachsenengrößen hergestellt wurden.

Mit gerunzelter Stirn durchwühlte er den Wäschekorb mit seinen Unterhemden und Boxershorts und Sporthosen, aber natürlich war keine zweite bunte Socke zu finden. Sie war allein, die Socke mit dem gelben Entenmuster, die einmal zusammengefaltet und feucht-dunkel an der Metalltrommel der Waschmaschine klebte.

Vorsichtig zupfte Julian sie hervor. Er zog den verschrumpelten Stoff in die Länge und hielt ihn neben seinen Fuß. Ein bisschen zu klein – vielleicht zwei Größen, oder drei.

Und dann, weil er nicht wusste, wohin damit, hängte er die Socke sorgfältig auf den Wäscheständer, neben das schwarz-weiße Schachbrett seiner Tennissocken. Als wäre es seine. Als gehöre sie dorthin.

Um die Falschheit des Anblicks irgendwie auszugleichen, saugte und wischte Julian die Wohnung, lüftete alle Räume, schüttelte die Fußmatte aus. Und da stand er, in seinen ausgeleierten Tennissocken, auf seiner kratzigen Fußmatte, als seine hübsche Nachbarin aus dem Stockwerk über ihm vorbeikam. „Morgen!“, sagte sie fröhlich.

Weil Julians Gedanken noch immer um Socken kreisten, wanderte sein Blick automatisch an ihr hinunter. Ihre Socken waren rosa, mit Muster, und die Farbe leuchtete im Kontrast zu ihrer Jeans und den blauen Schuhen.

Die Nachbarin warf ihm einen fragenden Blick zu, als sie die Wendung zum nächsten Treppenabschnitt nahm. Julian, knallrot, machte einen hastigen Schritt zurück in die Sicherheit seiner Wohnung und drückte die Tür ins Schloss.

Er mochte seine Tennissocken. Alles andere interessierte ihn nicht.

Seine Waschmaschine schien das anders zu sehen, denn nur wenige Tage darauf fand Julian die zweite Socke – ein pinker Klecks in seinem schwarzen und weißen und grauen Wäscheberg.

Vorwurfsvoll hielt er sie in die Höhe, damit die Waschmaschine sie sich ganz genau ansehen konnte. „Wem luchst du diese Socken ab, häh?“, schimpfte er. „Wem?“

Die Waschmaschine antwortete ihm mit trotzigem Schweigen.

„Wenn ich wegen Diebstahl angezeigt werde“, zischte Julian, „denn werden wir uns aber noch mal unterhalten, Freundchen!“

Und dann, weil ihm auffiel, wie er so in seinem Flur stand, pinker Damenstrumpf in einer Hand, stopfte er das Ding tief in seinen Wäschekorb. Sollte die feuchte Socke doch dort vermodern. Dann war Julian sie wenigstens los.

Aber sein Ärger hielt nicht vor. Es war ja nicht die Socke daran Schuld, dass seine Waschmaschine auf die schiefe Bahn geraten war. Nach einer halben Stunde, als seine Wut verraucht war, holte Julian sie vorsichtig wieder hervor, strich die Falten aus dem feuchten Stoff und hängte sie auf seinen Wäscheständer. Und als sie getrocknet war, schlug er sie sorgfältig zusammen und legte sie in seinen Korb für Flickwäsche, wo sie in der Entchensocke eine neue Gefährtin fand.

Und so ging es weiter. Julian fand alle paar Tage eine Socke in seiner Waschmaschine, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Manchmal war es bei jeder Wäsche. Manchmal kamen eine Woche oder zwei keine neuen Socken dazu, so dass er schon Hoffnung schöpfen wollte. Aber dann spähte er im Vorbeigehen in die Waschmaschine und entdeckte im hypnotisierenden Wälzen seiner schwarzen und weißen Tennissocken doch wieder einen bunten Farbklecks. Mal türkis mit bunten Punkten, mal rot-gelb kariert, manchmal mit Figuren am Bund oder Witzen, die er nicht verstand. Sein Flickkorb war schon bald so voll, dass sich jedes Mal, wenn Julian dagegen stieß, eine kleine Lawine bunter Singlesocken in seinen Flur ergoss. Und weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, leerte er den Korb in seinem Wandschrank auf den Boden und stellte ihn zurück an seinen Platz, damit Julian ihn erneut mit Socken füllen konnte, die ihm nicht gehörten.

Julian konnte das ertragen. Er konnte es aushalten, dass sich in seinem Wandschrank ein Sockenberg anhäufte, der wohl bald dem Mount Everest das Wasser reichen würde. Er konnte damit leben, wie reuelos seine Waschmaschine jedes Mal klapperte, wenn er ihr erklärte, dass das so nicht ging. Er konnte sogar damit leben, dass er keinem seiner Nachbarn mehr in die Augen sehen mochte, aus Angst, sie könnten sein Geheimnis an seinem Gesicht ablesen.

Aber als er eines Tages eine Kindersocke in seiner Waschmaschine fand, platzte ihm der Kragen.

Es war ein winziges Stück Stoff, diese Socke. Weiß. Oben umgeschlagen. Atemlos hielt Julian sie in der Hand. Von Zehen bis Bund war das ganze Ding nicht größer als sein Daumen. Er konnte sich kaum vorstellen, dass ein menschliches Wesen so klein sein mochte.

Unerwartet stieg Wut in ihm auf. Das kam überhaupt nicht infrage. Nein. Er weigerte sich, daran Schuld zu sein, dass ein Säugling kalte Füße hatte.

Durch die Wohnung stampfend sammelte Julian alles zusammen, was er brauchte: seine schärfste Schere, seine längste Schnur, alle seine Wäscheklammern. Er holte jede noch so gut versteckte Socke aus seinem Wandschrank, und vom Wäscheständer, und aus dem Flickkorb und hinter dem Regal, auf dem der Flickkorb stand, hervor. Und er klemmte jede einzelne Socke mit einer Wäscheklammer an die lange Schnur, stundenlang, bis sich der Schnur-Socken-Berg neben ihm in die Höhe türmte, so hoch, dass er fast an die Deckenlampe kam.

Julian klemmte die allerletzte, türkis gestreifte Socke an das allerletzte Stück Schnur, mit der einzigen freien Wäscheklammer, die er noch besaß. Dann lehnte er sich an die Wand und seufzte schwer. Fast sah die Konstruktion wie eine Girlande aus, mit bunten Socken-Wimpeln in allen Farben und Größen.

Fast fand Julian sie schön.

Kopfschüttelnd sammelte er die vielen, vielen Meter Socken-Schnur zusammen. Er steckte den Ballen in die unauffälligste Tasche, die er besaß, und stieg in den fünften Stock hinauf. Dort band er das eine Ende der Schnur am Geländer fest, holte das Knäuel aus der Tasche – atmete tief durch – und warf es in die Höhe.

Ein leuchtender Regenbogen aus Socken spannte sich durch die Luft. Einen Augenblick lang schien er vor Julians Augen zu schweben, dann verschwand er abrupt in der Tiefe.

Kaum hatte die Schnur sich gestrafft, sammelte Julian seine Sachen zusammen und eilte die Treppe wieder hinunter. Er wurde erst langsamer, als er seine hübsche Nachbarin in ihrer Wohnungstür stehen sah. Sie trug eine Socke mit einem Giraffenkopf darauf. Der andere Fuß war bloß.

Als sie ihn sah, zeigte sie auf die Sockengirlande. „Haben Sie das gesehen?“, fragte sie mit großen Augen. „Es war wie – wie bei einer Zaubershow.“

„Ha!“, sagte Julian viel zu laut. Er ging hastig weiter. „Ja. Witzig.“

Die Sockengirlande war so lang, dass sie bis fast auf den Erdboden reichte. Nur ein knapper Meter trennte sie von den Kacheln im Flur. Als er nach oben sah, strahlten die Socken in den buntesten Farben, eine jede fein säuberlich mit ihrer Wäscheklammer gesichert.

Julian lächelte zufrieden. Und dann, weil er nicht verhaftet werden wollte, hängte er ganz unten an die Schnur, kurz unter die Entensocke, einen Zettel: Bei Rohrreinigung aufgefunden. Bitte reklamieren Sie Ihr Eigentum.

Dann schlich er sich in seine Wohnung zurück. Niemand begegnete ihm. Er trat die Schuhe von den Füßen. Er schob die Schuhe in den – nun wieder leeren – Wandschrank. Er lauschte an seiner Wohnungstür, aber niemand ging im Treppenhaus auf und ab. Niemand klingelte an seiner Tür und verlangte nach einer Erklärung.

Julian atmete tief durch. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf die Waschmaschine, die in ihrer Nische stand und fast schön höhnisch die Klappe offenstehen ließ.

Mit einem erbosten Schnauben leerte Julian seinen Wäschekorb in die Öffnung und drückte Start. „Das sollte dir eine Weile das Maul stopfen“, sagte er streng. Dann, weil ihm sein böser Ton augenblicklich leid tat, tätschelte er unbeholfen ihren Deckel.

Es klingelte.

Julians Magen wurde ganz kalt. „Kein Wort!“, befahl er der leise rauschenden Waschmaschine, bevor er die Tür öffnete.

Seine hübsche Nachbarin sah ihn mit großen Augen an. „Wegen den Socken“, sagte sie, und wies auf die Sockenschnur im Treppenhaus.

Natürlich hatte sie ihn gesehen. Natürlich hatte sie ihn durchschaut.

Julian schloss die Augen und wappnete sich gegen die Vorwürfe.

Sie räusperte sich.

Als Julian die Augen öffnete, baumelte eine schwarze Socke vor seinem Gesicht. Vorsichtig hob er die Hände. Seine Nachbarin legte die Socke hinein.

„Ist das Ihre?“, fragte sie. „Weil“, sie nickte zu seinen Füßen hinunter, die in identischen Socken steckten.

Julian nickte stumm.

„Das klingt jetzt vielleicht ein wenig seltsam“, begann sie stockend, „aber ich habe sie in meiner Waschmaschine gefunden. Einfach so. Und dann wusste ich nicht, wohin damit, deswegen habe ich sie einfach mal auf die Leine gehängt. Aber dann habe ich die Sockengirlande im Treppenhaus gesehen und dann Sie und dann dachte ich, vielleicht gehört sie ja Ihnen.“

Julian starrte sie an.

Sie wurde rot. „Es tut mir wirklich sehr Leid, ich weiß auch nicht, wie das passiert ist.“ Sie sah ihn betreten an. „Ich bin wirklich kein Dieb.“

Ein Lächeln formte sich auf Julians Gesicht. „Ich glaube Ihnen.“

„Wirklich nicht! Ich-“ Sie stutzte. „Wirklich?“

„Wirklich.“ Julian öffnete die Tür ein wenig weiter. „Möchten Sie vielleicht hereinkommen? Auf einen Kaffee oder so? Ich habe da eine interessante Geschichte zu erzählen.“

Die Waschmaschine in ihrer Nische gluckerte zufrieden.