April – Hexenbann

Der Phantastische Montag dreht sich im April – natürlich – um die „Walpurgisnacht“. Carola Wolff verfasste zum Thema Verflucht gut küssen, C. A. Raaven Sowing the seed und Maike Stein Rauchkrähen.

Hexenbann

Circe wischte sich den Schweiß von der Stirn. Während der Beifall noch tobte, nahm sie ihre Wasserflasche vom Drummerpodest, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz vor Mitternacht. Auf den Bergen loderten jetzt schon seit Stunden die Feuer. Die Zeremonien waren im Gange, die Rituale vorbereitet.

Wenn sie eine Wahl gehabt hätte, hätte Circe sich ganz sicher kein Konzert auf diesen Abend gelegt. Aber sie hatte einen Plattenvertrag, und wenn man seinen Plattenvertrag gerne verlängern wollte, sagte man zu ihrem Manager nicht nein.

Der Mann war ein Teufel, auf seine ganz eigene Art.

Aber Circe hatte auch noch ein Ass im Ärmel. Wenn sie die Walpurgisnacht, die wichtigste Nacht des Jahres, schon nicht in urmenschlicher Exstase verbringen konnte, dann war eine Bühne, mit einem tobenden Publikum, vermutlich die beste Alternative.

Sie blickte in die Menge. Mit der Hand, die das pechschwarze Mikro hielt, bedeutete sie ihrer Band, eine Pause einzulegen. Noch einmal wischte sie sich den Schweiß aus den dunkel geschminkten Augen, dann trat sie an den Bühnenrand, wo ihre treuen Fans ihr entgegendrängten. Mit strahlenden Gesichtern an ihren Lippen hingen.

Circe lächelte wohlwollend auf sie hinunter. Sie hatten ja keine Ahnung, wen sie da bejubelten, diese kleinen Mädchen mit der schwarzen Schminke, die Jungen mit Band-Shirts und langen Haaren. Was sie bejubelten. Worauf sie sich eingelassen hatten, als sie beschlossen, in der Walpurgisnacht ihre sicheren Betten zu verlassen. Es war dumm von ihnen, aber Circe kamen sie damit sehr entgegen.

Sie strich über die Symbole, die sie mit schwarzer Farbe auf ihre Handgelenke gemalt hatte. Unter ihren Armreifen, Tüchern und Ringen gingen die Zeichen fast verloren, aber Circe konnte sie spüren, als pulsierten sie mit jedem Herzschlag. Die Pentagrammohrringe, die getrockneten Kräuter am Bühnenrand, die Nebelmaschine – das waren Requisiten. Nur Schall und Rauch, die mit ihrem Glitzer und Bling-Bling die wahre Magie übertünchten.

Ja, Circe bediente die Klischees. Mit Absicht – mit Vergnügen. Sie trug schwarz oder rot, enge Korsetts, die rotbraunen Haare lang und offen. Circe and the Witchers hatte sie ihre Band benannt, damit auch jeder die richtige – und damit falsche – Idee bekam. Denn wer würde schon eine Frau als Hexe bezichtigen, die vor hundertschwerem Publikum als Circe Zaubersprüche aufsagte und dann in Interviews lachend behauptete, sie würde in Wirklichkeit ganz unromantisch Cordula heißen?

Circe hob den Finger an die Lippen. Innerhalb weniger Augenblicke wurde es so still, dass sie die Kühlanlage über sich rauschen hörte.

„Steckt mal alle eure Handys weg.“

Sie konnte die Überraschung der Menge spüren; Enttäuschung, Neugier. Eins nach dem anderen versanken die Geräte in dem stillen Meer der Zuschauer. Wie eine fügsame Herde wandten sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit der Bühne zu.

Circe ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Am hinteren Ende der Halle glaubte sie, Kerzenschein flackern zu sehen. Vierfaches Leuchten war es, an vier Punkten des Sterns. Hannes der Roadie. Busfahrer Wulf. Lina vom Merch Stand und der Praktikant von der Venue, der zwar keine Ahnung hatte aber mit Feuereifer bei der Sache war. Sie alle hatten zwar die Stirn gerunzelt, als Circe sie mit den Kerzen beauftragte, aber sie hatten nichts gefragt.

Brave Schafe, die ganze Herde.

Die fünfte Kerze stand hinter ihr. Das ganze Konzert über hatte sie wild geflackert, herumgerissen von dem Schall des Schlagzeugs, den tobenden Gitarristen, Circes wild schwingenden Haaren. Jetzt brannte sie still und hell, wie ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit.

Circes dunkle Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. Idealerweise wäre sie für die Zeremonie auf einen Berg gestiegen – dicht bewaldet, mit einer Lichtung auf der Kuppel. Vielleicht einem zerfallenen Wehrturm. Hätte rußige Fackeln aufgestellt und mit dickem, roten Sud die Symbole ins feuchte Gras gemalt.

Hätte sich ganz der Ursprünglichkeit hingegeben. Die Kleidung abgelegt und die Haare geöffnet. Die Hände in den Himmel gereckt und den Wind gespürt, wie er über ihre Haut strich. Über die Haut der zitternden, nackten Körper, die ihr zu Füßen lagen, hörig und stumm. Opferlämmer, sozusagen.

So eine Konzerthalle war nicht ideal, nein – aber Hörigkeit gab es da draußen mehr als genug.

„Ich möchte euch heute ein ganz besonderes Lied singen.“ Den zaghaften Applaus unterbrach sie mit einer beschwichtigenden Handbewegung. Sie wandte sich nicht um – die Verwirrung ihrer Band konnte sie auch so bis in die Knochen spüren. Zuneigung überkam sie wie ein Rausch. Sie waren treu, ihre Jungs – wie Hunde. Wie Schafe. Lieb, nützlich, aber nicht zu überschätzen.

Sie warf noch einmal einen Blick auf die Uhr.

Mitternacht.

Circe hob ihre Hände über ihren Kopf. Öffnete ihre Lippen. In die gebannte Stille hinein, in das atemlose Schweigen, begann sie zu singen. Sie sang ein Lied, das aus der tiefsten Tiefe kam – aus der Erinnerung ihrer Vorfahren, dunkel und fremd, das sie selbst nicht kannte aber trotzdem so vertraut war, als hätte sie es schon tausend Male gehört.

Die fünf Kerzen flackerten im Luftzug der Klimaanlage.

Circe spürte die alte Kraft in sich aufsteigen. Die Macht. Den Hexenzauber, der einfach nicht sterben wollte, egal, wie lauthals die Menschheit ihn von sich wies. Der geben konnte und nehmen, erschaffen und zerstören. Und wo die uralte Energie sich sonst, in den schwarzen Wäldern, an ihren gebannten Opfern aufgeladen hätte, spiegelte sie sich jetzt in ihren Zuschauern – wurde auf Circe zurückgeschleudert, beutelte sie, quoll fast aus ihr hervor.

Sie schnappte nach Luft. Ihr Lied riss ab.

Einen Herzschlag lang herrschte Stille. Dann brach der Sturm über sie herein – Schreie wie ein Blitzeinschlag, laut und grell, Beifall wie Donnergrollen über tosenden Wellen. Selbst ihre Band applaudierte. Die Menge jubelte sich die Kehlen wund. Sie mochten Circes wahre Kraft nicht kennen – verstanden nicht, was Circe tat, aber sie liebten es, und diese Liebe war es, die Circe eine Macht verlieh, wie sie sie noch nie in ihrem langen Hexendasein erlebt hatte.

Zitternd atmete sie aus. Ihr Körper flatterte wie elektrisiert. Sie schaffte es nur mit Anstrengung, unauffällig auf einen Monitor zu sinken, und hob das Mikro schwer atmend an ihre Lippen.

„Ihr wisst es vielleicht nicht, aber ein neues Jahr ist angebrochen – ein neues Hexenjahr. Ich weiß, wir leben in finsteren Zeiten. Ihr habt Ängste und Sorgen. Ganz gleich, ob es finstere Gedanken sind, die euch plagen, oder Mitmenschen, ob es Krankheit ist oder Angst oder einfach nur ein Job, den ihr hasst.“

Sie strich mit der Hand über ihr Gesicht. Ihre Schminke war verlaufen und hinterließ schwarze Schlieren auf ihren Fingerspitzen. Die Symbole auf ihren Handgelenken waren wie taub. Magie füllte jede Zelle ihres Körpers.

Circe öffnete sich – öffnete ihren Zauber. Hüllte sie alle, jedes noch so ahnungslose, blinde Schaf, darin ein.

„Aber ihr seid nicht allein. Egal, wie einsam ihr euch fühlt, es gibt jemanden, der euch versteht. Jeder von euch hat mit jedem anderen hier im Raum etwas gemeinsam. Vertraut einander – vertraut euch einander an, und ihr werdet stärker sein, als ihr es je für möglich gehalten habt.“

Die Luft um sie herum schien zu vibririeren. Alles war lebendig und neu. Sie konnte Bewegung im Halbdunkel sehen – Köpfe, die sich ihren Nachbarn zuwandte. Ein Nicken, ein Augenzwinkern. Zaghaftes Lächeln. Ein Pärchen in der ersten Reihe küsste sich, um sie herum nichts als wohlwollende Gesichter.

Circe spürte es. Sie alle spürten es, wie eine Woge warmen Wassers, die ihnen entgegen strömte. Verständnis. Verbundenheit. Als sei die ganze Menschheit, nur für einen Moment, einen Schritt zusammengerückt.

Mit zittrigen Beinen stemmte Circe sich in die Höhe. Magie überschwemmte sie. „Wer hat Lust auf eine Zugabe?“, rief sie, und die Menge brandete auf, als sei Circe mit all ihrer Macht nur ein kleines, unbedeutendes Boot auf ihren tosenden Wellen.