Oktober – Samhain

Im Oktober konnten wir uns ein zweites Mal entscheiden: Natürlich war Halloween eins unserer Themen, aber auch der Internationale Tag der Seifenblasen am 5. Oktober war eine Option.

Entstanden sind dabei Carola Wolffs Langfinger, C. A. Raavens Anima amoris und Maike Steins Die Geister, die ich rief.

Samhain

Auf einem kahlen Feld, vergessen in einer Traktor-Furche, lagen zwei Kürbisse. Langsam brach die Nacht über sie herein und mit ihr eine bissige Kälte, die einen langen, harten Winter versprach. Der Himmel verdunkelte sich stetig und von den Maschinen- und Menschengeräuschen, die die Ernte begleitet hatten, war schon lange nichts mehr zu hören.

Langsam beschlich die zwei Kürbisse die Sorge, dass wohl niemand mehr zurückkehren würde, um sie zu holen.

Sie waren prächtige Kürbisse. Orange leuchtete ihre Haut, wo sie nicht von dunkler Erde verdeckt wurde, und ihre Stiele zeigten ein frisches Grün. Der eine war etwas zu groß geraten, um ihn vom Bauernmarkt nach Hause zu schleppen, aber der andere hatte genau die richtigen Ausmaße: Klein genug, um ihn in eine Jutetasche zu laden, aber trotzdem so groß, dass eine hineingeschnittene Fratze im Dunkeln weithin zu erkennen wäre.

Dumm nur, dass die beiden auf dem Feld geblieben waren.

Stumm schauten sie dem Sonnenuntergang zu, der den Himmel in sattem Grün und Rot und Violett erstrahlen ließ. Das dunkle Braun der aufgewühlten Erde sah schon fast schwarz dagegen aus. Hunderte Meter weit grub sich die Furche, in der die Kürbisse lagen, und ihre Nachbarinnen das Feld entlang. Hinter dem Acker kam ein Wald – ein hoher, dunkler, undurchdringlicher Tannenwald – und abseits vom Waldstück die entfernten, langsam aufflackerten Lichter einer Siedlung. In langen, langen Abständen kamen Fahrzeuge die Landstraße entlang gefahren. In der Helligkeit hatte man sie als farbige Kleckse am Waldrand vorbeiziehen sehen, nun huschten nur noch die Lichter ihrer Scheinwerfer verstohlen über die Baumstämme. Nur selten waren ihre Motoren auf dem Feld zu hören.

In der Ferne rief ein Käuzchen. Sonst war alles still.

„Vielleicht kommt uns ja doch noch jemand holen“, sagte der eine Kürbis zum anderen.

Der andere, kleinere Kürbis antwortete nicht. Er blickte hinaus auf die dunklen Furchen des Ackers, wo die Maschinen die grünen, zerbrechlichen Pflanzen in die Erde gepresst hatten, und hatte wenig Hoffnung. Aber er wollte sie seinem Kumpanen nicht nehmen. Er war der realistischere der beiden, sofern denn Kürbisse Realisten sein können, aber er war schließlich kein Unmensch.

Im fernen Ort begann Musik zu spielen. Zerrissene Lieder klangen übers Feld, mal ein wenig Gesang, mal Melodie. Man konnte nicht viel von ihnen aufschnappen, tief in einer Furche auf einem dunklen Feld, aber sie klangen nach Frohsinn und guter Laune. Die Lichter wurden ebenfalls heller, und bunter, und an den Häusern am Ackerrand schillerten die Dachrinnen, als habe jemand Girlanden aufgehängt.

Zwei kleine Gestalten rannten, kichernd und japsend, über das Feld auf die Feierlichkeiten zu. Beide waren von Kopf bis Fuß einbandagiert. Bei einer der Mumien hatten sich die Verbände gelöst. Immer wieder musste sie stehen bleiben, um ihre flatternden Anhängsel zusammenzusammeln, aber das störte die beiden in ihrer Heiterkeit nicht. Im Gegenteil, ihr Gelächter wurde jedes Mal lauter, wenn die sich auflösende Mumie über ihre eigenen Verbände stolperte.

Sehnsüchtig sahen die Kürbisse den Knirpsen nach, aber diese bemerkten sie nicht einmal.

„Ob wir auch Teil des Fests sein würden, wenn wir nicht vergessen worden wären?“, fragte der große Kürbis mit gedämpfter Stimme.

Der kleinere Kürbis sagte nichts, aber er sah wehmütig zur Siedlung hinüber.

Es dauerte nicht lange, bis wieder jemand über den Acker rannte. Diesmal war es ein junger Mann mit einem tief geschnittenen Hemd und großen, angstgeweiteten Augen.

„Nein, bitte nicht“, rief er mit jämmerlicher Stimme.

Die Frau mit den blutroten Lippen und den spitzen Eckzähnen und dem engen, dunklen Kleid folgte ihm mit einem finsteren Lachen. Während der junge Mann sich noch panisch umsah, packte die Vampirin ihr Opfer am Arm. Sie grinste, sodass man alle ihre spitzen Zähne sehen konnte, und machte schreckliche Geräusche, und dann nahm sie das Gesicht des jungen Mannes in beide Hände und küsste ihn.

Er küsste leidenschaftlich zurück. Nach einer Weile ließ er seine Hände zu ihrer Hüfte hinuntergleiten und drückte fest zu, sodass sie mit einem protestierenden Quietschen zusammenzuckte, und die Vampirin machte sich lachend los. Er griff nach ihrer Hand, sie griff zurück, und dann stapften sie Hand in Hand auf die Siedlung zu.

Nehmt uns mit, wollten die Kürbisse ihnen nachrufen. Lasst uns Teil eurer Feierlichkeiten sein.

Aber in nur ein paar Augenblicken waren die Vampirin und ihr Opfer nur noch dunkle Schemen in der Dämmerung.

„Hm“, sagte der größere Kürbis.

Der kleinere Kürbis sagte nichts.

Die Sonne war nun vollends untergegangen und der Himmel verdunkelte sich mit jeder verstreichenden Minute mehr. Bald würde selbst jemand, der nach ihnen Ausschau hielt, sie in der Dunkelheit nicht mehr entdecken. Wann würden sie dann gefunden werden? Im beißenden Morgenlicht? In ein paar Tagen? Im drohenden Winter, zerfressen von Rehen und Dachsen und Getier, oder vielleicht erst im Frühjahr, wenn der Acker vorbereitet wurde für eine neue Generation von Kürbissen, wenn der große und der kleine Kürbis kaum mehr von der dunklen Erde zu unterscheiden waren?

Ein Werwolf schlich, Lumpen schleifend, über den Acker.

„Meinst du“, sagte der große Kürbis nach einer Weile, „dass wir die Glücklichen waren unter all unseren Geschwistern? Schließlich werden wir nun auf diesem Feld den Tieren und den Krabbelviechern zur Nahrung dienen, und all die anderen werden hinter Glasscheiben und auf Türschwellen verrotten, so wie es nie für uns gedacht war.“

Das Schweigen des kleineren Kürbisses sprach Bände.

Der größere wartete eine Weile, dann seufzte er und sagte kleinlaut, „Nein, du hast recht.“

Bedrücktes Schweigen senkte sich über den stillen Acker. Dieses Mal keimte keine Hoffnung in den beiden auf, als sie sanfte Schritte auf der weichen Erde hörten. Sie sahen nicht zu der vorbei stapfenden Gestalt auf und nicht zur heiteren Siedlung hinüber, denn sie waren nicht dafür erschaffen worden, nachts vergessen auf einem dunklen Feld zu liegen, und auch ein Kürbis kann nur eine gewisse Menge Enttäuschung ertragen.

Ein Paar Schuhe stapften in ihr Blickfeld, und die Kürbisse betrachteten die Schuhe nur, weil dort nichts anderes war, was es zu betrachten gäbe. Es waren spitze Schuhe, mit Satinschleifen und breiten Absätzen, die nichtsdestotrotz in der weichen Erde des Felds einsanken. Grell gestreifte Strümpfe steckten darin, und in diesen wiederum vermutlich Beine, aber so weit dachten die Kürbisse nicht. Sie waren immerhin Kürbisse.

Dann blieben die Schuhe stehen.

„Na hallo, ihr zwei“, sagte eine Stimme über ihnen.

Die beiden Kürbisse schielten in die Höhe. Vor dem lila-schwarzen Himmel blickte ein Gesicht auf sie nieder, ein grinsendes Gesicht mit einem spitzen Hut darüber. „Da gehe ich völlig unschuldig über diesen leeren Acker“, erklärte der Mund, der zu dem Gesicht gehörte, „und was finde ich da? Die zwei schönsten Kürbisse, die je auf einem leeren Acker liegen geblieben sind.“

Die Hexe stützte die Hände auf ihre Knie und brachte die Nase ganz dicht an die stillen Kürbisse heran. „Und dabei hatte ich solche Sorge, dass ich gar keinen schönen Kürbis mehr finde so spät am Abend. Aber hier liegen ja gleich zwei.“

Sie ächzte, als sie den größeren Kürbis in ihre Arme lud. „Was ein Prachtkerl du doch bist“, sagte sie und wischte sich demonstrativ den Schweiß von der Stirn, aber trotzdem klemmte sie ihn sich unter den Arm, als wäre gar nichts dabei. „Dann sehen wir doch mal zu, dass wir nach Hause kommen.“

Angsterfüllt sah der große Kürbis zu seinem Kumpanen hinunter, denn so gerne er auch aus dieser einsamen, dunklen Furche in diesem einsamen, dunklen Feld gesammelt werden wollte – lieber wollte er den Rest seines kurzen Kürbislebens hier verbringen, als ohne seinen stillen Begleiter gerettet werden.

Furchtsam blickte sein kleiner Kumpan zu ihm auf; eine Miene, die erst erlosch, als die Hexe auch ihn ohne große Anstrengung in ihre Arme sammelte. „Na keine Sorge, ihr zwei“, sagte sie sanft. „Ich würde doch niemals einen Kürbis auf einem Feld liegen lassen, wenn es ein Fest zu feiern gibt.“ Und damit gab sie erst dem einen, dann dem anderen Kürbis einen Kuss, pustete sich die Ackererde von den Lippen und trug sie auf die heitere Siedlung zu.