November – Wechselbalg

Das #phantastischerMontag-Thema für den November war ein Leservorschlag: Gestaltwandler. Umgesetzt haben das Thema: Carola Wolff mit Einfach Märchenhaft, C. A. Raaven mit Beziehung für Fortgeschrittene und Maike Stein mit Blaue Stunde.

Außerdem gibt es im November das vierte Mal dieses Jahr einen fünften Montag – die dazugehörige Gastgeschichte findet ihr dann natürlich hier verlinkt.

Wechselbalg

Sie war meine erste große Liebe. Miriam mit den glänzenden schwarzen Haaren und dem schiefen Vorderzahn. Wir küssten uns hinter dem Bushäuschen und taten so, als wüssten wir nicht, dass unsere Freunde kichernd um die Ecke lugten. Wir hielten im Biologieunterricht in der letzten Reihe unter dem Tisch Händchen und ihre Eltern waren nicht begeistert von dem Ruf, den meine Familie hatte, aber sie liebten ihre Tochter über alles und hätten ihr niemals wegen so einer Kleinigkeit das Herz gebrochen.

Ich liebte sie so sehr, dass ich es ihr sagen wollte. Trotz dem, was meine Eltern mir immer wieder predigten. Heimlich, wenn sie nicht bei mir war, übte ich verschiedene Gesichter im Spiegel. Vielleicht sollte ich meine Gesichtszüge in ihre verwandeln – nein, das wäre sicher verstörend. Sie würde schreien, oder weinen. Vor mir zurückweichen. Lieber behielt ich es für mich – war ihre treue große Liebe, die ihr niemals weh tun würde.

Stattdessen waren es meine Eltern, die uns das Herz brachen, indem ihr Ruf sie eines Tages einholte. Wir mussten weiterziehen. Und nach viel Geschrei und Tränen und heimlich geschmiedeten Plänen, gemeinsam auszureißen, saß ich ein letztes Mal auf Miriams schmalem Bett und hielt ihre Hände ein letztes Mal fest in meinen und fuhr ein letztes Mal mit dem Ärmel über ihre feuchten Wangen.

„Ich werde dich für immer lieben“, versprach ich ihr mit belegter Stimme.

Sie wischte sich die Nase am Ärmel ab. „Das sagst du jetzt nur so“, murmelte sie.

Ich schniefte. „Klar“, sagte ich. „Jetzt sitze ich hier und heule, aber wart’s nur ab, morgen habe ich dich schon wieder vergessen.“


Als ich sie das nächste Mal kennenlernte, war sie Ersti auf einer Party, ein altes Senfglas voll Bier in einer Hand, die Wangen rot vor Alkohol und Abenteuer. Ich konnte kaum atmen.

„Hi!“, rief sie mir zu. Ihre Stimme war laut, aber die Musik war es auch. „Ich bin Miri!“

„Freut mich“, sagte ich und verfluchte mich dafür, heute einen Kopf voll dunkler Locken zu tragen, breite Schultern und einen unebenen Bart, aber es war der Körper, mit dem die Gastgeberin mich kennengelernt hatte. Miriams erste Liebe war in dieser Stadt nicht bekannt.

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und lächelte.

Wir tranken Bier; redeten über Studium und Wohnung und Heimat und die Liebe.

„Ich war schon mal so richtig verliebt“, gestand sie lallend. „So richtig große Liebe verliebt. Aber seitdem nie wieder.“

„Was würdest du tun?“, fragte ich. Scheinbar unbeteiligt nahm ich einen Schluck Bier. „Wenn er morgen vor deiner Tür stünde und dich fragen würde, ob du mit ihm auf ein Date gehen willst?“

Wild schüttelte sie den Kopf. „Nee“, entschied sie, als würde mein Herz daran nicht aufs Neue zerbrechen. „Das Kapitel ist vorbei, verstehst du? Ich habe monatelang um ihn geweint, und jetzt ist aber auch gut.“

Ich sammelte mich. Lächelte. „Na dann – Lust auf ein Date mit mir?“


Sie war meine zweite große Liebe, oder ich ihre. Neun Monate lang winkten wir uns zwischen unseren Vorlesungen zu, tanzten eng umschlungen auf schlechten Partys, hielten nachts ihre ganze WG wach mit unserem Krach und holten ihnen morgens zur Entschuldigung frische Brötchen.

Neun Monate gelang es mir, sie zu halten. Dann behauptete sie, ich würde ihr etwas verheimlichen, dass ich eine andere Tussi hätte, dass ich es nicht ernst meinen würde mit ihr und dass die Versprechungen von Liebe alles nur Lügen waren, und nach viel Geschrei und knallenden Türen saß ich alleine in ihrem Hausflur und fror und presste das heiße Gesicht gegen das Geländer, denn wie hätte ich ihr erklären sollen, dass ich in meiner WG einfach nicht so aussah wie ihr Lockenkopf von einem Freund? Dass es nicht Lügen und Geheimnisse waren, die verhinderten, dass ich sie mit zu mir nach Hause nahm, sondern die reine Tatsache, dass niemand mich dort erkennen würde, wenn ich als ihr Freund die Türe öffnete?

Aber das war leicht zu beheben. Oder nicht? Keine verschiedenen Gesichter mehr. Nur noch der Körper, der in meiner WG wohnte. Die anderen Bekanntschaften würden mich vermissen müssen. Nur noch Miriam. Nur noch die Wahrheit.


Als ich sie das dritte Mal kennenlernte, war ich ihr in eine Bar gefolgt. Mit gerunzelter Stirn sah ich zu, wie sie mehrere Vodka-Redbulls in sich hineingoss, bevor ich aus meiner dunklen Ecke trat und sie ansprach. Sie warf mir einen angewiderten Blick zu, bevor eine Freundin sie hastig ans andere Ende der Kneipe zog, und als ich mich das nächste Mal nach den beiden umsah, waren sie verschwunden.

„Verdammtes Weib“, grummelte ich, und weil der Barkeeper mich böse ansah und der Schmerz in meiner Brust mich zu zersprengen drohte, wechselte ich mein Gesicht zu einer zahnigen Fratze, nur um ihn zurückstolpern zu sehen.


Als ich sie das nächste Mal kennenlernte, hatte ich den Bogen raus. Ich traf sie ‚zufällig‘, lächelte freundlich, war nicht zu charmant und nicht zu tollpatschig. Ich wohnte jetzt allein; mit einem Gesicht, an das ich mich langsam gewöhnte, mit einem Ausweis, der zu meinem Aussehen passte. Wir gingen auf Dates, redeten bis tief in die Nacht, sie lernte meine Freunde kennen – nur ein paar, sie glaubte ich sei frisch zugezogen – und wenn es draußen wieder heller wurde, schmiegte sie sich an mich und murmelte, „Es fühlt sich an, als würden wir uns schon ewig kennen.“

Ich dachte, ich könnte nicht mehr glücklicher werden – bis zu dem Moment, wo eine Schwester mir ein schreiendes Bündel Mensch überreichte und mich „Papa“ nannte. Anja war ein drolliges Kind, ein pummeliges Baby mit hellem Flaum auf dem Kopf, ein Schreihals vor dem Herrn. Ich liebte sie so sehr wie nichts unter der Sonne. Und Miriam liebte ich auch – Mutter meiner Tochter, mit dunklen Ringen unter den Augen, mit Babybrei-Flecken am Kragen, die schwarze Mähne wüst zusammengebunden.

Zwei Jahre lang waren wir glücklich, ich und Miriam und unser Schreihals von einem Kind.

Dann war es Miriam, die schrie – so laut, dass ich mir brühenden Kaffee überschüttete, so schnell eilte ich ins Badezimmer. Miriams Augen waren weit aufgerissen. Mit zitterndem Finger zeigte sie auf unsere Tochter – jetzt unseren Sohn, mit Miriams pechschwarzen Haaren, der verwirrt weinend in der Wanne hockte.

Vielleicht hätte ich damit rechnen müssen. Vielleicht hätte ich damit anders damit umgehen müssen. Aber was ich spürte, war nicht Angst oder Ärger. Keine Sorge. Keine Panik.

Nur Glück.

Freude, mein bezauberndes Kind zu haben, meine Familie zu haben, nicht mehr allein zu sein. Ich lachte. Sammelte mein brillantes Kind in meine Arme und redete ihm gut zu und schützte es vor Miriams Blicken, bis es wieder meine Tochter war.

„Alles ist wieder gut“, versprach ich meiner großen Liebe. „Schau – wieder ganz die Alte.“

Miriam trat einen Schritt zurück. „Das ist nicht meine Tochter.“

„Sieh doch hin.“ Ich zeigte auf unser Kind. „Ist das nicht unsere kleine Anja?“

„Ich weiß, was ich gesehen habe!“ Sie war bleich, schüttelte wild den Kopf. „Ich weiß, wie meine Tochter aussieht.“

„So wie du weißt, wie ich aussehe?“ Es war grausam, aber Anja hatte wieder angefangen zu greinen, und ich konnte meine Kleine einfach nicht weinen sehen. Ich barg ihr Gesicht in meiner Schulter und wechselte mein Aussehen, starrte Miriam mit den treuen Augen ihrer verloren geglaubten ersten Liebe hämisch an. „Warum fühlt es sich so an, als würden wir uns schon ewig kennen, häh?“

Anja schluchzte auf und ich beugte mich über sie, kitzelte ihren runden Bauch. Als ich wieder aufsah, war Miriam verschwunden.


Vielleicht hätte ich sie mehr vermissen müssen. Sie war schließlich meine große Liebe und ich war glücklich mit ihr gewesen. Aber ich hatte Anja. Sie hatte mich, wir hatten einander, und wir hatten sehr viel Spaß. Wir gingen als Vater und Tochter in Telefonzellen und kamen als Mutter und Sohn wieder heraus, stellten dem unfreundlichen Schaffner mit immer neuen Gesichtern wieder und wieder die gleiche Frage und aßen unbemerkt ganze Probierschalen leer.

Es waren die besten Jahre meines Lebens.

Später tat es dann weh. Als meine wunderschöne Tochter nicht mehr die Gestalt wechselte, weil es ihr Spaß machte, sondern weil ihr jemand gesagt hatte, sie wäre nicht hübsch genug. Als ihr Körper immer dünner wurde und ihre Brüste immer größer. Als sie sich verkrümmte und verbog und doch nie gut genug war in den Augen der Jungen, die sie so verehrte. Mein Herz brach für sie, jeden Tag aufs Neue. Jeden Tag fragte ich mich, ob Liebe denn wirklich so viel Kummer rechtfertigte. Aber ich konnte nichts tun, außer ihre Hand zu halten und ihre Tränen zu trocknen. Manchen Dingen sind wir ausgeliefert, egal in welcher Gestalt.


Als ich Miriam das letzte Mal kennenlernte, hatte sie weiße Strähnen in den Haaren und einen stotternden Gang. Sie setzte sich neben mich auf die Parkbank, betrachtete mich lange und eindringlich und sagte dann, „Zeig ihn mir noch einmal.“

Ich gehorchte – zeigte ihr den Jungen von damals, wie er heute aussehen würde, grauhaarig und faltig und alt, und wenn die Wandlung ihr Angst machte, ließ sie sich davon nichts anmerken.

Lange blickte sie mich an. So lange, bis ich, unangenehm berührt, wieder zurückwechselte in meine normalste Gestalt.

Sie sah nicht weg. „Du hättest es mir sagen sollen.“

Das Lachen, das über meine Lippen kam, war rau und bitter. „Warum? Damit du früher Reißaus nehmen könntest?“

„Vielleicht.“ Sie zuckte mit den gewölbten Schultern. „Aber es wäre meine Entscheidung gewesen.“

„Es war auch so deine Entscheidung. Uns zu verlassen.“

Miriam warf mir einen strengen Blick zu. „Es war deine Entscheidung, mich zu belügen und zu betrügen und zu verfolgen.“

„Das ist vorbei“, sagte ich, und es war die Wahrheit. Ich hatte viel falsch gemacht – viel mehr als sie. Aber ich würde meine Fehler nicht länger wiederholen.

Ich blickte über die Wiese, zu den beiden Kindern, die auf dem Spielplatz tobten. Miriam folgte meinem Blick; sah die dunklen Haare des Jungen, die im Wind flatterten, als er über die Wiese rannte.

„Ist das …?“, fragte sie, doch bevor ich es erklären musste, trat die Mutter der Kleinen zu ihnen heran. Eine hochgewachsene, schöne junge Frau, die strahlend zu ihren Kindern hinunter lächelte. Ich wusste, dass Miriam in ihr die Züge ihres kleinen Mädchens erkannte, so wie ich sie jeden Tag in ihren Augen, ihren Handbewegungen, ihrem frechen Grinsen sah. Anjas Tage, jemand anderes zu sein, waren vorbei. Nur die schwarzen Haare, die sie bis fast auf die Hüfte trug, hatte sie behalten.

Miriam seufzte schwer. „Ich habe so oft an sie gedacht.“

„Noch ist es nicht zu spät.“

„Ich habe einen anderen geheiratet“, sagte sie.

„Und ich bin ein anderer geworden.“ Ich warf ihr einen Blick zu. „Ich habe meine Familie – ich bin nicht mehr allein.“

Sie lächelte, ein ernstes Lächeln. „Das freut mich für dich.“ Sie legte ihre alte, faltige Hand auf meine, und wir blieben noch eine ganze Weile still auf unserer Parkbank sitzen.