Dezember – Der Leuchtturm am Ende der Welt

Ich habe die Ehre, mit der vierten Montagsgeschichte zum Thema „Rauhnächte“ das Jahr 2020 abzuschließen.

Außerdem sind erschienen: Die wilde Jagd von Carola Wolff, Rauyas erste Nacht von C.A.Raaven und Wenn der Winter beginnt von Maike Stein.

Wir danken euch von ganzem Herzen für die Unterstützung, die freundlichen Worte und das anhaltende Interesse an unseren phantastischen Experimenten. Und eines kann ich euch versprechen: Auch 2021 wird ein phantastisches Jahr!


Der Leuchtturm am Ende der Welt

Schnee fiel auf den Staub der Ebene. Es war kalt geworden über Nacht, so bitterkalt, dass Theo die Hände schützend an seine Brust drückte. Die kleinen Flocken brannten auf seiner Haut, bevor sie sich in winzige Wasserperlen auflösten. Feiner, roter Staub haftete an seinen Stiefeln.

Theo duckte sich zwischen die Felsbrocken, auf denen der Leuchtturm in den grauen Himmel ragte. Es war ein kleines, dickliches Gebäude, mit fetten Streifen um den Bauch und einem dunklen, spitzen Dach, unter dem stumm das Warnlicht in die verlassene Weite blitzte. In der Kälte hielt Theo sich nicht auf. Mannshohe Felsbrocken erlaubten es ihm, hinunter in die Ebene zu kraxeln, aber er blieb stets auf den Felsen und kletterte selten hinunter bis auf die Erde. Wozu? Da unten war nichts außer Staub und Weite. Zwischen den Felsen war es, wo die wahren Schätze zu finden waren.

Jede Nacht seit er sich erinnern konnte fegte der Sturm über die Ebene. Er brachte Kisten und Schachteln und Taschen, mal leer und mal gefüllt. Die Gegenstände, die vom ewig pfeifenden Wind über die Ebene gejagt wurden, blieben an den schroffen Steinen hängen und verkanteten sich zwischen den Brocken, sodass Theo sie am nächsten Tag bloß aufzusammeln brauchte. Essen brachte der Wind, und Haushaltsgegenstände, Samen und Schuhe und Teppiche und Reifen, und einmal sogar ein Kätzchen, das Theo am nächsten Morgen laut jammernd zwischen den Felsen fand.

An diesem ersten Morgen nach dem Einbruch der kalten Nächte fand Theo eine Tanne zwischen den Felsen. Sie war etwas kleiner als er, mit einem hölzernen Sockel und mit schillernden Kugeln und Ketten verziert. Manche der Kugeln hatten ihre Reise überstanden, andere waren an den Steinen in schillernde Glassplitter zerschellt.

Theo schüttelte den Baum aus, so gut es ging, und trug ihn hinauf zum Turm. Neben dem Kamin machte er sich gut. Zufrieden streichelte Theo dem Kätzchen, das in der Zwischenzeit zu einer stattlichen Katze herangewachsen war und zufrieden zwinkernd auf einem Kissen lag, über den Kopf.

„Irgendjemanden muss es da draußen doch geben“, sagte Adélie später, während sie Schmalz auf eine dicke Scheibe Olivenbrot strich. „Das liegt doch nicht alles auf der Ebene herum.“

Sie hatte Kerzen aufs Fenstersims gestellt und die Kugel am Baum glänzten golden in ihrem Licht. Unbehaglich sah Theo auf seinen Teller hinunter. Er hatte es aufgegeben, sich zu fragen, woher die Dinge wohl kommen mochten. Er würde es ohnehin nie beantworten können. Manchmal standen Namen auf den Sachen, die er fand – eine Widmung in einem Buch oder eine Adresse auf einer Schachtel – aber was nutzte ihm das? Selbst, wenn da draußen, jenseits der Ebene, noch andere Menschen existierten, würde er sie ja doch niemals kennenlernen.

Es gab nur ihn und Adélie und den Leuchtturm, hier auf den Felsen am Rand der Ebene, ganz am Ende der Welt.

Am nächsten Tag war es so kalt, dass Theo nicht zwischen den Felsen auf die Suche ging. Stattdessen stand er am Fenster, kraulte die Katze und sah zu, wie der Wind, weit draußen im Nichts, Dinge über die Ebene jagte. Manchmal war das so. Meist tobte der Sturm nur in der Nacht, aber manchmal sah Theo auch tagsüber Gegenstände im Wind treiben. Meist waren sie zu weit draußen, um sie noch einzuholen.

Heute hatte er keine Chance. Still stand er an der beschlagenen Scheibe, während der Schnee in weißen Flocken auf die rote Erde fiel: Erst noch klein, kaum sichtbar im diesigen Licht, dann immer größer und immer schneller, bis Theo zusehen konnte, wie die staubige Ebene unter einer weißen Schicht verschwand. Die Katze hob schnurrend den Kopf, um ihn gegen Theos Hand zu stoßen, und er kraulte sie sanft hinter den Ohren.

Adélie kam und lehnte sich an seine Seite. „Wir können nicht auf ewig auf den Wind vertrauen“, sagte sie leise. So leise, dass er so tun konnte, als habe er sie nicht gehört. „Wir müssen etwas tun.“

Theo blickte hinaus auf die unendliche, leere, schneebedeckte Ebene und schluckte schwer.

Am nächsten Morgen fand er, fast zufällig, ein kleines Päckchen tief in einer Felsspalte. Adélie schlug vor Freude in die Hände, als er es ihr überreichte. Strahlend zeigte sie ihm den Kompass, der in einer kleinen, mit Stoff ausgeschlagenen Pappschachtel lag, und nicht einmal, dass Theo abrupt aufstand und den Raum verließ konnte ihre Laune dämpfen.

„Wir haben alles, was wir brauchen“, sagte sie später. „Wir haben Proviant, jetzt haben wir auch die Ausrüstung. Wir können hinaus in die Ebene. Nach anderen Menschen suchen.“

„Und die Katze?“ Theo zeigte mit einem anklagenden Finger auf sie. „Willst du sie etwa sich selbst überlassen?“

„Natürlich nicht.“ Adélie hob sie schützend auf den Arm. „Ich will sie mitnehmen.“

Sie fand eine Tasche, in der die Katze bereitwillig sitzen blieb. Sie packte ihre Vorräte zusammen, ihre dicken Jacken, ein Zelt, das Theo einmal über einen Felsen drapiert gefunden hatte. Theo suchte zwischen den Felsen herum, als könne er etwas dazwischen finden, dass ihre Meinung ändern würde, und weigerte sich, hinaus auf die verschneite Ebene zu sehen.

Sie änderte ihre Meinung nicht. Sie schmierte ein letztes Mal Schmalz auf ihr Olivenbrot, löschte das Feuer im Kamin und hob die Katze in ihre Tasche, bevor sie die Tür des Leuchtturms weit öffnete. Schneeflocken wehten herein. „Kommst du?“, fragte sie.

Er folgte ihr bis zu den Felsen, über die Spalten zwischen den Brocken und zur Ebene hinunter, wo sie die Füße durch den Staub trat und ihren Rucksack zurechtrückte.

Theo blieb auf seinem Felsklotz stehen. Er wartete, bis Adélie zu ihm aufsah, leckte seine trockenen Lippen. „Was -?“ Er schluckte. „Was, wenn es schrecklich wird?“

„Was, wenn es fantastisch wird?“ Adélie sah flehend zu ihm auf. „Was, wenn da draußen Leben auf uns wartet, und Menschen, und all die Dinge, die ein Leuchtturm hier am Rande des Nichts uns niemals geben können wird?“ Trotz der Taschen und der Rucksäcke und der Katze streckte sie die Hand nach ihm aus.

Theo sah hinaus auf die Ebene und die unendliche Weite nahm ihm fast den Atem. Er hatte so oft oben im Leuchtturm neben dem blitzenden Warnlicht gestanden und in die Ferne gespäht, und er hatte noch nie etwas anderes gesehen als Leere. „Was, wenn wir laufen und laufen und doch niemals irgendwo ankommen außer am Ende der Welt? Wäre das nicht furchtbar?“ Macht dir das keine Angst?

Adélie drückte die Katze fest an ihre Brust. „Was kann furchtbarer sein, als sich ein Leben lang zu fragen, ob es vielleicht wunderbar geworden wäre, wenn wir uns nur getraut hätten?“

Ganz alleine stand sie da, alleine auf der Ebene, klein und schwer beladen und trotz allem bereit. Noch einmal streckte sie die Hand nach ihm aus. Und dieses Mal griff Theo zu.