Januar – Der Begleiter

2020 war ein spannendes Jahr – in vielerlei Hinsicht. Aber nicht alles, was 2020 passiert ist, wollen wir hinter uns lassen, und deswegen gibt es den phantastischen Montag auch dieses Jahr.

Um aber auch ein wenig frischen Wind in die Sache zu bringen, lassen wir uns dieses Jahr von etwas Neuem inspirieren: Zwölf Monate hat das Jahr, zwölf Lieder haben wir ausgewählt, um unsere Texte zu inspirieren.

Das Lied für Januar ist “What’s Up” von den 4 Non Blondes. Kreativ verarbeitet haben es Carola Wolff in Die Erfinderin, C. A. Raaven in Charme, Schirm und Melone und Maike Stein in Ein Fünkchen Gelassenheit.

Auf ein Neues!

Content Notice: Kind in Gefahr  Kind durch Vernachlässigung durch Eltern in Lebensgefahr. (Hier markieren, um ausführlichere Warnungen zu lesen. Achtung, Spoiler.)

Der Begleiter

Die Spitzen ihrer Schuhe schleiften durch den Schnee. Hin und her, hin und her ging es, sodass sich schon zwei schmale, dunkle Streifen unter ihr gebildet hatten. Die Ketten der Schaukel quietschten mitleiderregend in der Kälte. Kahle Bäume räkelten sich, skelettartig, in der Dämmerung.

Sie saß schon lange auf der Schaukel. Viel zu lange, viel zu still, aber an diesem trüben Winternachmittag wollte niemand auf der Straße sein, niemand lange am Fenster stehen, und so war das Mädchen auf dem Spielplatz noch niemandem als ungewöhnlich aufgefallen.

„Weißt du …“ Der Mann auf der Schaukel neben ihr trug einen Hut, einen hohen, platten Hut mit einer breiten Krempe. Lange, blasse Finger ragten aus seinen abgeschnittenen Handschuhen hervor. „Weißt du, es ist nicht gut, so lange in der Kälte zu bleiben.“

Das Eisen der Ketten brannte an ihren Fingern. Langsam löste sie ihren starren Griff und legte die Hände zusammen, aber das machte sie fast noch kälter. „Ich muss warten“, sagte sie.

Der Mann sah auf seine Füße hinunter. Er hatte lange, lange Beine, deren Füße in schweren Stiefeln steckten. Das Mädchen neben ihm trug dünne Schühchen, deren Spitzen vom durch-den-Schnee-schleifen schon ganz abgewetzt waren. „Du sollst warten“, korrigierte er. „Aber du kannst jederzeit gehen.“

Stumm schüttelte das Mädchen den Kopf.

Der Mann seufzte. Er schlug die langen Beine übereinander, lehnte sich gegen eine der Eisenketten und verschränkte die Finger vor dem Bauch, als würde er es sich in seinem Lieblingssessel an einem prasselnden Feuer gemütlich machen. „Dann warte ich mit dir.“

Lange saßen sie da – viel zu lange. Die grauen Wolken über ihnen färbten sich dunkel, dann schwarz. Langsam fing es an zu schneien – kleine, winzig kleine Flocken, die lautlos und unscheinbar vom Himmel taumelten. Der Mann mit dem Hut sah besorgt zu ihnen auf, aber das Mädchen schien sie kaum zu bemerken, rollte sich bloß ein wenig enger zusammen und drückte ihre grauen Hände an ihre Brust.

„Du kannst mit mir kommen“, sagte der Mann schließlich. Langsam, als bereue er seine Worte schon, bevor sie über seine Lippen kamen. „In die Wärme. Du musst nicht für immer hier sitzen.“

„Ich muss warten“, beharrte das Mädchen. „Es dauert nicht mehr lang.“

„Nein, das tut es nicht“, murmelte der Mann in seinen Kragen, und er sah erneut besorgt zum dunklen Himmel auf.

Das Mädchen schaukelte sanft, um die starren Glieder aufzuwärmen, und der Mann mit dem Hut tat es ihr gleich. Zwischen den kahlen Bäumen, die den Spielplatz von der Straße trennten, konnten sie eine Frau gehen sehen; die Haare struppig, der Gang uneben. Sonst war niemand zu sehen.

Der Mann mit dem Hut bremste sich mit seinen Stiefeln ab. Er griff nach der Kette der Schaukel neben sich und hielt sie fest, sodass das Mädchen zu ihm herumschwang. „Bitte“, sagte er, leise aber eindringlich. „Warte nicht mehr.“

Die Frau mit den wirren Haaren blieb am Zaun stehen. Sie winkte dem Mädchen zu. „Komm“, rief sie. Ihre einladende Handbewegung war zu groß, zu freudig. Mit raschen Blicken sah sie die Straße hinauf und hinunter. „Na komm schon!“

Der Mann mit dem Hut ließ los.

Langsam erhob das Mädchen sich von der Schaukel. Kurz blieb sie stehen, sah den Mann von der Seite an. „Ist es in Ordnung?“, fragte sie sehr leise. „Wenn ich wieder gehe?“

Der Mann mit dem Hut lächelte. „Es würde mich sehr glücklich machen“, sagte er, und trotz seiner Blässe und den langen, dünnen Glieder und den Schneeflocken, die sich auf der Krempe seines Huts verfangen hatten, waren seine Augen warm und weich. „Wenn du wieder gehst.“

Das Mädchen nickte. Ihr schmales Gesicht war bleich und ernst. „Danke, dass du mit mir gewartet hast.“

Der Mann lächelte, und sein Lächeln übertönte alles – die Kälte, die Dunkelheit, den ungeduldigen Ruf der Frau am Zaun. Das Mädchen lächelte nicht, aber ihre Mundwinkel bewegten sich ein bisschen.

Langsam, behutsam, stapfte sie mit ihren dünnen Schuhen über den Spielplatz. Der Mann mit dem Hut blieb auf der Schaukel sitzen. Er sah zu, wie das Mädchen mit dem Tor des niedrigen Zauns kämpfte, wie ihre Schuhe in der vereisten Schneeschicht einbrachen. Er hörte nicht, was die Frau zu dem Mädchen sagte und das, dachte er, während er hinauf in den dunklen Himmel sah, war vielleicht besser so.

Sorgfältig zog das Mädchen die hölzerne Pforte ins Schloss. Sie sah nicht zu ihrer Mutter auf, aber die bemerkte es kaum. Die Kälte setzte ihr zu; die Frau rieb sich die Arme. Ihr Blick glitt über den verlassenen Spielplatz: über die Wippe, die Schaukel, das eingeschneite Spielhäuschen. Wind fegte durch die Bäume. Sie nahm die schlaffe Hand des Mädchens fest in ihre und zog es mit sich, mit eiligen Schritten, den Gehsteig entlang und über die Straße.

Der Mann mit dem Hut sah ihnen nach. Er sah ihnen noch lange nach – selbst, als die beiden schon längst verschwunden waren. Dann legte er seine langen, dünnen Finger um die Ketten der Schaukel und begann, sanft vor und zurück zu schwingen. Seine Stiefel glitten über den dünnen Schnee, wieder und wieder; direkt neben den Furchen, die die Schuhe des Mädchens zurückgelassen hatten.