Februar – Zuckersüß

Der Winter ist vorbei, es naht der Frühling – und mit ihm ein neuer Monat phantastischer Kurzgeschichten, diesmal inspiriert von Katzenjammers “Cherry Pie”. Carola Wolff verfasste zum Thema Sugar and Spice and all things nice, C.A.Raaven Schicksal à la Marta und Maike Stein Vom Suchen und vom Finden.


Zuckersüß

„Das war das Lieblingsrezept deiner Großmutter“, sagte Jelenas Tante – ihre Großtante, Schwester der besagten Vorfahrin. Ein großer Eimer saftiger, tiefroter Kirschen stand zwischen ihnen auf dem Tisch. Drumherum drängten sich die Schüsseln wie neugierige Nachbarn – Mehl, Zucker, Butter, Eier und Gewürze, verteilt auf Behälter in allen Farben und Formen, die den abgewetzten Küchentisch bis zum äußersten Rand bedeckten.

Sie waren allein in der Hütte – Jelenas Mutter war auf Liefertour, ihre Schwestern in die Stadt gefahren. Nur sie und die Tante, in einer kleinen Hütte am Wegrand, in jede Richtung kilometerweit nur Wald. Vor ein paar Stunden – vor einer Stunde – hatte Jelena die Tante nicht einmal gekannt, und jetzt saßen sie gemeinsam in ihrer niedrigen Küche, die Mitbringsel der Fremden um sie herum aufgestapelt, das Feuer im Ofen heiß geschürt.

Jelena schielte auf die Uhr. Ewig konnte ihre Mutter ja nicht mehr unterwegs sein.

„Mehl“, befahl die Tante.

Hastig reichte Jelena Schüssel und Messbecher zu ihr hinüber und sah zu, wie die Frau eine großzügige Portion davon in ihre Backform gab. Im Backen lag Magie, das wurde Jelena schon von Kindesbeinen an eingebläut. Die richtige Zutat, zur richtigen Zeit – wenn man nur seinen Willen richtig einfließen ließ, ihn unter die Beeren mischte und zwischen den Zuckerkörnern versteckte, ihn in jedes seidige Butterstückchen rührte und in die tiefsten Tiefen des Teigs einknetete, dann konnte niemand der Verlockung ihres Backwerks widerstehen.

Jelena hatte noch nie selbst ein Hexengebäck serviert, aber sie wusste, dass es ging. Es war die verschwiegene Familienlegende – wie ihre Großmutter damals ihren Großvater mit ihrem Kirschkuchen derart verhext hatte, dass der arme Mann gar nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand; Frau und Kinder sitzen ließ und im helllichten Tag, ohne sich auch nur dafür zu schämen, mit der Waldhexe davonlief.

Heutzutage buken sie weniger finstere Sachen – Hörnchen, die schlechte Laune vertrieben, Kekse, die Liebe und Fürsorglichkeit weckten. Brote, die Hoffnung schenkten. Jede Bäckerei im Umkreis sah Jelenas Mutter mit ihrem Lieferwagen mit Sehnsucht entgegen.

Von Kuchen hielt Jelenas Familie sich fern.

Die Tante mischte Eier und Butter und ein wenig Honig unter den Teig. Muskeln spannten sich unter ihrer Bluse, als sie den Teig mit bloßen Händen durchknetete, bevor sie Jelena die Schüssel entgegenhielt. „Probier mal.“

Langsam, vorsichtig, ohne ihren Blick von den dunklen Augen der Tante abzuwenden, steckte Jelena ihre Fingerspitze in den cremigen Teig. Süß war er, aber nicht zu sehr – weich, aber nicht schmierig. Er würde gut zu den Kirschen passen.

Jelena wünschte sich trotzdem ihre Mutter zurück.

„Er ist gut“, sagte sie leise.

Die Tante lächelte. Sie hatte ein weiches, warmes Gesicht; die Jahrzehnte des Backens saßen auf ihren Knochen. Sie glich kein bisschen den verschwommenen Erinnerungen, die Jelena an ihre Großmutter hatte: Eine schmale, faltige Frau in einem schmalen, dunklen Bett, deren Finger unermüdlich zitterten und zuckten, selbst als der Rest von ihr schon längst still geworden war. Es war schwierig, zu glauben, dass die beiden Frauen wirklich als Schwestern aufgewachsen waren.

Zaghaft lächelte Jelena zurück.

„Gutes Mädchen.“ Die Tante zeigte auf eine der Schüsseln. „Reich mir den Zucker.“

Jelena gehorchte. Sie sah zu, wie die Frau mit kleinen, geübten Bewegungen ihres Handgelenks das weiße Pulver über die Kirschen streute – kurz wurden die roten Kugeln verdeckt, bevor der Zucker ihre Flüssigkeit aufnahm und sich alles wieder tief und dunkel färbte.

„Ist das das Rezept, mit dem die Großmutter den Großvater verhext hat?“, fragte Jelena.

Die Tante hielt inne. „Meinst du verhext verhext?“

Jelena nickte schüchtern.

„Was für ein Blödsinn.“ Die Frau gab energisch eine Handvoll Kirschen in die Backform. „Deine Großmutter war die liebste Person unter dieser Sonne. Niemals hätte sie einen guten Mann in die Irre geführt.“ Sie goss noch einen Becher Zucker obenauf. „Nein, mein Kind – unsere Kuchen vermögen ja einiges, aber das ist keine böse Magie, die wir hier zusammenbrauen.“ Sie wies auf die Kuchenform. Scharlachrote Früchte drängten sich darin, dicht an dicht. Die Hände der Tante waren rot verschmiert. „Sieh dir das doch einmal an. Unser Gebäck ist Liebe, es ist Wärme. Zuneigung. Unsere Kuchen können Streithälse versöhnen und Liebende an ihre wahren Gefühle erinnern.

„Und meine Schwester soll ihren ewig treuen Ehemann verhext haben.“

Sie schüttelte angewidert den Kopf. „Und jetzt mach mir den Ofen auf.“

 

Als die ganze Küche nach Kuchen zu duften begann, zog die Tante die Ofenhandschuhe über ihre plumpen Finger. Sie hatte in der Zwischenzeit unaufhörlich geredet – von der Großmutter erzählt, von ihrem Mann, von Jelenas Mutter und wie es sie alle gar nicht geben würde, wenn die Großmutter nicht damals all ihre Liebe in einen saftigen, süßen Kirschkuchen gebacken hätte. Jetzt zog sie geschäftig die Ofentüre auf und griff in die heiße Öffnung hinein. Wärme und Duft stiegen Jelena entgegen.

Die Tante lächelte zufrieden. „So soll das aussehen“. Ihr Messer glitt in den goldbraunen Teig, kam rot verfärbt wieder hervor. Sie lud ein großes Stück auf einen angeschlagenen Teller und stellte es Jelena vor die Nase. „Iss, Kind.“ Ihre vorherige Laune schien vergessen. „Lass dir zeigen, wie deine Großmutter damals ihren Liebsten verzaubert hat.“

Die Kirschen dampften auf Jelenas Gabel. Vorsichtig nahm sie einen Bissen.

Hitze füllte ihren Mund, aber nur für einen Augenblick. Dann wich sie einer angenehmen Wärme, einer Süße, wie Jelena sie selten geschmeckt hatte. Vielleicht nie. Sie bekam fast jeden Tag frisches, leckeres Gebäck, aber dieser Kuchen war besser als alles, woran sie sich erinnern konnte. Vielleicht war es doch ein schöner Zufall, dass Jelenas Mutter noch nicht zurückgekehrt war, wenn Jelena dadurch solch einen Kuchen testen durfte.

„Siehst du?“ Das Lächeln der Tante war sonnig und warm, geschmeidig und charmant. „Würde ich dich jemals belügen?“

Jelena aß noch einen Bissen. Die saure Süße der Kirschen, der Zucker, der zarte Teig, der ihr auf der Zunge zerging … Wohlige Wärme breitete sich in ihrem Magen aus, erfüllte sie, wärmte sie bis in ihr Innerstes. Sie wusste nicht mehr, warum sie der Tante nicht so recht getraut hatte. Jemand, der so backen konnte, konnte doch nicht böse sein.

Selig lächelte sie ihrer Tante entgegen. „Du würdest mich niemals belügen“, sagte sie.

Die Tante lächelte zurück. „Iss noch ein Stück, mein Kind.“