September – Das Krähennest

Die Inspiration für den September lieferten uns Frank Carter & The Rattlesnakes mit “Crowbar”. Von Carola Wolff gab es dazu Braves Mädchen, von C. A. Raaven Future is now und von Maike Stein Tante Krähe. Und heute Abend so um halb 8, 8 gibt es eine Lesung unserer September-Geschichten auf Twitch – schaut doch mal vorbei. 🙂


Das Krähennest

Auf einem Felsen hinter dem Ewigmeer stand ein Wirtshaus. Eine Gaststätte, mit so vielen Türen wie es Leben gab, denn keine zwei Wege waren gleich und doch führten so viele von ihnen in den kleinen Schankraum, wo die Tische eng gedrängt nebeneinander standen und die Dachbalken nur noch von Pfeifenrauch und verschüttetem Bier zusammengehalten wurden.

Ivo hieß der Kerl hinter der Theke – ein junger Mann mit dichten schwarzen Locken; an den Schläfen kahl rasiert. Er trug ein T-Shirt mit einem Totenkopf darauf und eine weite Pluderhose und Stiefel, die sich so perfekt an seine Füße schmiegten, als liefe er das Leder schon seit Jahrhunderten ein.

Ivos Schänke, das Krähennest, war stets gut gefüllt. Piraten drängten sich in jedem Winkel – hockten breitbeinig auf den klapprigen Stühlen, einen Arm stets schützend um ihren Krug gelegt. Nur wenige sahen auf, wenn sich irgendwo eine Tür auftat und ein Neuling das Krähennest betrat. Nicht einmal die gewaltigen Schiffe, deren neon-blinkende Lichter man durch die beschlagenen Scheiben im Himmel erspähen konnte, weckten mehr als ein paar abwesende Blicke.

An einem Tisch vorne am Tresen hockten zwei vernarbte, grauhaarige Kerle – einer mit einem Holzbein, das er schräg von sich gestreckt hielt, der andere mit faltigen Händen und einem Auge aus Glas.

„Ich hätte die Serie ja legal geguckt“, erklärte das Mädchen mit dem rosa Kapuzenpullover und der Schleife in den Haaren, das mit ihnen am Tisch saß, „wenn es sie irgendwo legal gegeben hätte. Gab es aber nicht.“

Die beiden grauen Männer sahen sich an. Dann hoben sie still anerkennend ihre Krüge und prosteten dem Mädchen zu.

Ivo schob den Rauch-starren Vorhang beiseite und sah zum Himmel hinauf; Lichter blinkten zwischen den Sternen, spiegelten sich auf den ewigen Weiten des Meers.

Am Nachbartisch saß, mit einem Bierglas, ein junger Mann, der noch im Besitz aller Gliedmaße war. Er hatte scheinbar ein Auge auf das Serien-schauende Mädchen geworfen, aber anstatt sie anzusprechen, rieb er bloß am Saum seines Oberteils. Auf dem Hemd stand in großen, breiten Lettern: Wer ist eigentlich dieser LAN und warum macht er so viele Parties? Der Junge kratzte an der Naht seiner Jeans, räusperte sich und sagte, zu den beiden Kerlen mehr als zum Mädchen, „Und ihr so?“

„Die Briten“, sagte der eine.

„Die Spanier“, der andere.

Zwei Kinder, ganz junge Dinger, deren Füße in der Luft wippten und für die Ivo das heiße Wasser statt als Grog mit Kakaopulver aufgegossen hatte, sahen sich mit großen Augen in der Schänke um.

„Wir haben ein Buch aus der Bücherei abfotokopiert“, sagte eines.

„Hast du Kekse?“, fragte das andere Ivo hoffnungsvoll.

Ivo kramte in seinen Schränken und fand Knäckebrot, das er mit Zucker bestreute.

Eine der Türen öffnete sich. Ein Mensch stolperte herein – ein Wesen, gefolgt von ein paar surrenden Schüssen. Die Belegschaft duckte sich, ohne von ihren Stühlen aufzustehen.

Das Wesen – halb menschlicher Körper, halb ein durchscheinendes Geflecht aus Kunststoff und Kabeln und Zahnrädern – drückte hastig die Tür ins Schloss. „Sorry, sorry“, sagte es laut. „Die Kooperation hat gedroht, Sauerstoff zu rationieren. War so ein ganzes Thema.“

Die übrigen Piraten kehrten nickend zu ihren Getränken zurück. Ivo stellte ein frisches Bier auf den Tresen.

Der junge Mann im Party-Hemd schielte wieder zum Mädchen hinüber. „Worauf warten wir eigentlich?“, fragte er.

Die jüngeren Gäste wandten ihre erwartungsvollen Gesichter in Ivos Richtung, doch der wischte unbeirrt mit einem Tuch Wassertropfen von seiner verwitterten Theke. „Bis man uns braucht“, sagte er bloß.

In der Nähe legte eine Frau, von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet, gerade ihre Stiefel auf ihren klapprigen Tisch. „‚Räuberei‘, bitte.“ Sie verdrehte die Augen. „Jegliche Besitztümer sind entstanden, indem irgendwann einmal jemand auf etwas zeigte und gesagt hat, ‚Das ist jetzt meins.‘ Was ist so anders daran, wenn ich auf jemandes Schmuckschatulle zeige und das Gleiche sage?“

Ihre Kumpanen hoben zustimmend ihre Krüge. Das Mädchen im Kapuzenpullover schaute etwas skeptisch drein, aber im Großen und Ganzen nickte die Runde zustimmend.

Einer der ergrauten alten Kerle streckte sich hinauf zum Tresen und schob Ivo seinen Krug entgegen. Schaumfetzen klebten noch am Rand. „Und du?“, fragte er. „Wie gehörst du eigentlich dazu?“

Ivo verzog die Lippen. „Irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass die Bierfässer von den Schiffen fallen.“

„Guter Mann“, sagte der Pirat mit den Narben.

Ivo nickte andächtig. Noch einmal sah er zum Fenster hinaus. Die Lichter im Himmel blinkten noch immer, aber sie bewegten sich nicht mehr. Oder vielleicht sah es auch nur so aus.

Neben der Tür, die hinaus auf die Weiten des Ewigmeers blickte, wartete eine zweite – versiegelt mit rotem Band, mit dem Schriftzug Nur im Notfall quer über das Holz gemalt. Noch nie hatte einer der Piraten die Tür geöffnet gesehen.

Jetzt drehte sich der Knauf. Ein Mann trat ein. Seine Rüstung schillerte im Licht der Gaslaternen – formierte sich neu, legte sich passgenau um seine Gliedmaßen, zog Stacheln glatt und gab seine elektrisch knisternde Waffe frei.

Er räusperte sich. „Piraten aller Länder und Zeiten“, sagte er mild. „Der Zeitpunkt ist gekommen – die Menschheit wurde von den Wenigen, den Wohlhabenden, an den Rand der Vernichtung gedrängt. Nur wem etwas gehört, hat etwas zu sagen, und den meisten Menschen wurde alles genommen.“

Er sah sich um. Seine Rüstung, empört, stellte die Stacheln wieder auf. „Und Piraten nehmen sich, was ihnen gefällt, oder nicht? Es ist Zeit, uns zurückzuholen, was die Reichen uns genommen haben.“

Die Piraten im Krähennest sahen sich nach Ivo um.

Der, als hätte er gar nichts gehört, öffnete einen seiner Schränke. Er stellte einen Met auf die Theke, drei eingestaubte Schnapsgläser, eine bauchige Weinflasche und einen halbleeren Whiskey. Dann holte er einen Dreispitz aus den unendlichen Tiefen des Schranks hervor. Er bürstete ein paar Spinnweben vom Hut und setzte ihn auf seine Locken, dann zog er eine schillernde Waffe aus der Dunkelheit und schob sie in seinen Gürtel.

„Worauf wartet ihr?“, fragte er die schweigende Menge. „Wir werden schließlich gebraucht, oder nicht?“

Langsam kam Bewegung in die Piraten. Die beiden alten Kerle erhoben sich ächzend. Die Frau im Ledermantel drehte das Kugellager ihrer Pistole. Das Mädchen im rosa Pulli band ihre Haarschleife neu, und der Junge im T-Shirt sah ihr fasziniert dabei zu.

Der Neuankömmling lächelte zu Ivo herüber, und Ivo lächelte zurück. „Ihr nicht“, sagte er den beiden Kindern. „Ihr übt noch ein bisschen.“

Die beiden sahen sich prüfend an. „Können wir beim nächsten Mal unsere Freunde mitbringen?“

Ivo grinste. „Keine Sorge“, sagte er. „Das Krähennest wartet schon auf euch.“