Oktober – Dunkel und still

Unsere Geschichten für den Oktober sind inspiriert von dem Song ‚Alison Hell‘ von Annihilator. Carola Wolff schrieb Untergrund, C.A.Raabe Black Rabbit und Maike Stein Vielleicht. Unsere Twitch-Lesung heute Abend wird nicht stattfinden, aber wir holen sie selbstverständlich nach. 🙂


Dunkel und still

Als der Vollmond sich über die Baumwipfel erhob, schwang die junge Hexe sich auf ihren Besen. Nichts liebte sie mehr als die Nächte, in denen die glänzende Scheibe sich aus den Wäldern emporschob. Alles glänzte silbrig-fein im Licht des Vollmonds, als hätte die Alte Mutter Sternenglanz auf die Zweige und Steine und Pflanzentriebe gegossen. Die Flüsse und Teiche unter ihr, die das Licht von oben widerspiegelten, wurden zu kleinen Himmelreichen, und die ganze Welt sah warm und weich und wohlig aus.

Den Besen fest zwischen den Knien breitete die Hexe die Arme aus. „Hallo, Nacht!“, rief sie in die Dunkelheit.

In stummer Antwort streckte die Finsternis sich ihr entgegen. Der Nachtwind kitzelte sie an den Zehen, warm und frech, und sie lachte.

Lautlos glitt sie über die Felder, an den Wäldern entlang und so dicht über den Bachlauf, dass ihre Zehenspitzen Kräusel auf der Oberfläche hinterließen. Ein paar Rehe sahen ihr verdutzt dabei zu. „Lasst es euch gut gehen mit euren Gräsern“, rief die junge Hexe ihnen zu, bevor sie sich zur Seite neigte und das Gewässer hinter sich ließ.

Stumm stand in den Wiesen das alte Herrenhaus, an dessen steinerner Façade der Efeu in die Höhe rankte, wo die Mäuse auf den Dachbalken raschelten und tuschelten und die Thujabäume sich ehrwürdig in den Himmel erhoben. Die kleine Hexe lenkte ihren Besen höher, denn sie naschte so gerne von den Thujabeeren – die waren so klein und rau und quietschten so lustig beim Kauen.

Am Wipfel angelangt strich die Hexe andächtig mit den Fingern über die borstigen Zweige des Baums. Die Thujas wuchsen groß und lang, und die Apfelbäume auf der Wiese waren klein und rund, und die Eichen überragten selbst die Häuser der Menschen, und sie alle waren Bäume und sie alle waren gut.

Aber der Thuja hatte Beeren. Grinsend schob sie sich eine davon in den Mund, doch als sie sich umsah, vergaß sie, hineinzubeißen.

Unter ihr, aus einem der Erkerfenster des Herrenhauses, lehnte ein Mädchen hervor – ein Menschenkind. Es hatte lange, blasse Haare und ein formloses weißes Kleid und Haut, die fast so hell war wie der Vollmond, der sie leuchten ließ.

Die Hexe hielt ganz still. Sie sollte sich nicht von Menschen sehen lassen, das war gefährlich. Aber ihre Robe und ihre Haare waren schwarz wie Frau Nacht, und wenn sie sich nicht bewegte, würde die Dunkelheit sie vielleicht in sichere Unsichtbarkeit hüllen.

„Hallo du!“

Die Hexe blieb still, und das Menschenkind rief noch einmal. „Du da!“ Sie winkte hastig. „Komm da runter! Weißt du denn nicht, dass in Vollmondnächten die böse Zauberin unterwegs ist?“

Die Hexe runzelte die Stirn. Sie sollte sich zwar nicht von Menschen sehen lassen, ja, aber dieser Rabe war ja nun eindeutig davongeflogen. Also warum nicht? Sie ließ sich von ihrem Besen hinunter auf die Dachziegel tragen und balancierte leichtfüßig zum Fenster hinüber. Vorm Rahmen stehend war sie viel größer als das Mädchen, und sie duckte sich, um in die Dunkelheit des Hauses hineinzuspähen.

Das Zimmer war groß, mit einem Bett und einem Schrank, die darin zu schrumpfen schienen wie die Tautropfen in der grellen Morgensonne. Ein paar Puppen saßen ordentlich auf einem Regal.

Das Mädchen sah mit großen Augen zu ihr auf, und die Hexe erwiderte neugierig ihren Blick. „Was ist denn eine Zauberin?“

„Eine gemeine alte Frau“, flüsterte das Mädchen. „Gebeugt und hässlich und mit Warzen am Kinn, und wenn du ihr einmal begegnet bist, dann wirst du deines Lebens nicht mehr froh.“

„Was, wirklich?“ Hastig kletterte die Hexe über das Fenstersims ins Zimmer, um sich neben dem Mädchen auf die Dielen zu kauern. Gemeinsam spähten sie hinaus in die Nacht.

„Wirklich!“, flüsterte das Mädchen. „Sie fährt nachts durch die Lüfte und kreischt und lacht und verflucht alle, die das Pech haben, ihr zu begegnen.“

„Oh je.“ Die kleine Hexe lehnte sich gegen die Wand unter dem Fenster und streckte die Beine von sich. Ihr Herz pochte wie wild. „Wie gut, dass ich der noch nie begegnet bin.“

„Sehr gut, ja.“ Das Mädchen nickte. „Aber hier drinnen bist du sicher vor ihr.“

„Das ist gut.“ Die Hexe fasste in ihren Mund. „Magst du Thujabeeren?“

Hastig schüttelte das Mädchen den Kopf. „Die sind doch giftig!“, wisperte sie.

Die Hexe nickte stumm. Sie wusste, dass für sie die saftigen Beeren nicht giftig waren, aber das Mädchen sah so besorgt aus. Deswegen wartete sie, bis es wieder hinaus in die Nacht sah, um ihren Fund zu verspeisen.

„Glaubst du, wir werden die böse Zauberin sehen?“, fragte sie dann leise.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ich sitze hier jede Vollmondnacht und halte Wacht.“

„Das ist sehr nett von dir.“ Die junge Hexe hockte sich neben sie. „Siehst du die Bäume da hinten? Da habe ich eben Rehe gesehen.“

„Ja?“, fragte das  Menschenmädchen mit großen Augen.

„Ja.“ Die Hexe nickte. „Und dahinter, da wo die Lichter in den Hügeln leuchten? Das sind andere Menschen – sie wohnen ganz weit weg von allen, und nachts tanzen und singen sie in ihren Hütten. Dann fliegen die Vögel vor Schreck von dannen.“

Sie lachten.

„Und hinter den Hügeln?“, fragte das Mädchen. „Was kommt dann?“

Die Hexe erzählte es ihr, von den Wäldern und Tälern und von den Städten, zu denen sie sich noch nicht herangetraut hatte, von den schneebedeckten Bergspitzen, die dahinter am Horizont zu sehen waren und irgendwo in der Ferne glitzernde Ozeane. Sie berichtete von ihren nächtlichen Ausflügen, und das Mädchen erzählte vom hellen Tag und der Sonne, die ihre Nasenspitze verbrannte und wie bunt alles aussah, wenn das Licht darauf schien, von Menschenfesten und ihren Bräuchen und wie gerne sie einmal die Welt sehen würde. Sie flüsterten sich zu, um die anderen Hausbewohner nicht zu wecken, und stießen sich mit den Ellenbogen an und kicherten bis der müde Mond, nun unscheinbar und blass, sich zum Horizont hinunterneigte.

Als der erste Sonnenstrahl durchs Fenster schien und den Schatten des Fensterrahmens auf die gegenüberliegende Wand malte, spähten die beiden hinaus über die Wiesen. Nebel wälzte sich über die Felder. Vögel jubelten im Chor.

„Jetzt bist du sicher“, sagte das Mädchen. Sie reichte der kleinen Hexe ihren Besen. „Die böse Zauberin kehrt nun nach Hause zurück. Sie kann dir nichts mehr tun.“

Langsam kletterte die Hexe über das Fenstersims hinaus aufs Dach. Das grelle Sonnenlicht brannte in ihren Augen, und sie blinzelte. „Dann kann ich wieder hinaus in die Dunkelheit?“

„Nur bis nächsten Monat“, gab das Mädchen zu bedenken. „Dann fährt die Zauberin wieder aus.“

Die Hexe schob ihren spitzen Hut in den Nacken, um sich an der Stirn zu kratzen. „Dann kann ich wohl nicht mehr bei Vollmond unterwegs sein?“, murmelte sie. Das war wirklich schade. Der Eisenhut, den sie beim schillernden Licht des Vollmonds erntete, schmeckte einfach immer am besten.

„Vielleicht könntest du ja wiederkommen“, schlug das Mädchen vor. „Wir können uns gegenseitig beschützen.“

Die kleine Hexe strahlte. Sie könnte – sie könnte keine Thujabeeren mitbringen, denn die waren wohl nicht gut für Menschen. Aber vielleicht Würmer, zum Naschen. Oder eine Kröte.

Sie schwang sich auf ihren Besen, der gehorsam begann, sich in die Lüfte zu heben. „Bis zum nächsten Vollmond dann.“

„Bis dann“, sagte das Menschenmädchen mit einem zarten Lächeln. Sie winkte, während sie kleiner und immer kleiner wurde, und die kleine Hexe ließ sich herum gleiten, sodass sie unter ihrem Besen hing, ihr Gefährt nur mit Händen und gekreuzten Knöcheln umklammert. Sie ließ sich in die Morgenröte tragen, während der Wind über ihre Glieder pfiff und die schwindende Nacht in stillem Abschied an ihrer Robe zupfte, und sie lachte.