November – Kohlefresser

Diesen November inspirierte der Song „Kid Fears“ von den Indigo Girls unsere Geschichten. Carola Wolff schrieb dazu Bella Ella, C. A. Raabe Kinderspiel und Maike Stein Krähenschwestern. Und weil es im November mal wieder einen Bonus-Montag gibt, kommt nächste Woche noch eine spannende Gast-Geschichte dazu. Viel Spaß beim Lesen!


Kohlefresser

Gabriel war ein ängstlicher Junge. Er fürchtete sich vor den Schatten in der Dunkelheit, vor hohen Bäumen und tiefen Brunnen, vor den schnellen Autos auf der Landstraße und dem grimmigen alten Platzwärter, der im Ort das Pflaster kehrte. Er zuckte zusammen, wenn sein Vater mit der Hand auf den Tisch schlug, weil sein Sohn sich wieder einmal etwas als einziger nicht getraut hatte. Wenn Gabriel wie so oft mit verdreckter Kleidung nach Hause kam, weil er sich hinter einem Baum oder unter einem Strauch oder in einem Graben vor etwas versteckt hatte, und seine Mutter schwer über ihn seufzte, biss er ganz fest die Zähne zusammen, um nicht zu zittern.

Alle wussten, dass er ein Angsthase war. Es war ja kaum zu übersehen. Er fürchtete sich vor lauten Geräuschen und großen Tieren und kleinen krabbeligen Insekten. Er fürchtete sich vor den älteren Kindern, die ihm hässliche Sachen nachriefen und lachten, wenn ihm deswegen die Tränen kamen. Wenn in der Schule Zeit fürs Vorlesen war und der Lehrer ein gruseliges Buch aufschlug, drückte Gabriel sich ganz fest mit dem Rücken an die Wand. Er wagte es dabei nicht einmal, die Augen zu schließen, und so starrte er stumm auf die Uhr und wünschte sich, sie möge doch ein wenig schneller ticken.

Die anderen Kinder liebten es, sich zu gruseln. Sie jubelten, wenn der Lehrer sein Buch hervorholte. Am liebsten mochten sie die Geschichte vom Kohlefresser – von dem großen, gemeinen schwarzen Monstrum, das in den Kohlekellern zu Hause war und unartige Kinder fraß. Sie sangen Lieder über die staubige Kohle, wenn sie ihre Hüpfspiele spielten, und sie rannten nachts im Dunkeln so schnell nach Hause wie sie konnten, aber sie lachten dabei.

Die älteren lachten auch, als sie die Tür zum Kohlekeller hinter Gabriel zuschlugen und ihn in der Finsternis alleine ließen. Einen Moment lang dachte er, es musste ein Versehen gewesen sein – er war gestolpert, obwohl er die Hand im Rücken gespürt hatte, die ihn vorwärts schubste. Der Wind hatte die Tür zugeschlagen, obwohl er hören konnte, wie der rostige Riegel zugeschoben wurde. Es war pechschwarz um ihn herum, er war blind, er hämmerte mit der Faust gegen die Metalltür und rief und schrie und bettelte, dass sie ihn herausholen sollten.

Aber niemand holte ihn.

Gabriel hörte das hämische Lachen, gedämpft aber deutlich, durch die schwere Türe. Also mussten sie doch auch seine Rufe hören, oder nicht? Sein Hämmern wurde langsamer, dann erstarb es ganz. Stirn und Hand hielt er gegen den kalten Stahl gepresst. Sie wussten ganz genau, wie sehr er sich fürchtete. Es war ihnen einfach egal.

Tränen brannten in seinen Augen. Vorsichtig machte er einen Schritt zurück. Hinter ihm war der Kohlekeller, und er spürte die Dunkelheit um sich herum wie eine schwere Decke, die sich erstickend auf seine Sinne legte. Wie ein Monster lauerte sie hinter ihm, baute sich drohend über ihm auf, und er drehte sich hastig herum und presste den Rücken gegen die kalte, unnachgiebige Tür.

Es war schwarz um ihn herum. Ein winziges Fenster hatte der Keller, klein und verschmiert, und Gabriel starrte auf diesen Grauschleier in all der Finsternis und versuchte, nicht darauf zu achten, wie sehr seine Stimme zitterte. „Wer – wer ist da?“

„Du weißt genau, wer ich bin“, kam eine Stimme aus der Dunkelheit. Eine Stimme wie das Grollen eines Minenschachts, dumpf und weit entfernt und Erd-erbebend. Wie zwei glühende Kohlestücke leuchteten Augen in der Dunkelheit auf.

Der Kohlefresser. Gabriel schluckte schwer. „Bitte friss mich nicht“, stammelte er hervor.

Ein erneuter Laut kam aus der Schwärze – fast schon ein Seufzen. „Wen holt der Kohlefresser?“

„K-Kinder.“ Das Wort wollte kaum über seine Lippen.

Unartige Kinder.“ Ein Schnauben in der Finsternis. „Du bist so vorsichtig, dass du mir vermutlich im Halse stecken bleiben würdest.“

Gabriel wusste nicht, ob ihn das beruhigen sollte.

Mit einem dumpfen Grollen, wie einem Beben tief im Erdinneren, das die Heizungsrohre klingen ließ, kam das Wesen näher. Rote Augen glimmten über ihm. Heiße Luft wallte Gabriel entgegen.

„Deine Freunde da draußen hingegen …“

„Sie sind nicht meine Freunde“, brachte er heraus.

„Offensichtlich.“ Die grauenvollen Augen wandten sich von ihm ab. Er konnte Kohle knirschen hören. Ein gigantischer Schatten bewegte sich an dem kleinen Fenster vorbei. „Sie bekommen gerade Angst, da draußen.“ Ein erneutes, leises Grollen. „Dass dir etwas passiert sein könnte. Jetzt, wo du still bist, ist es nicht mehr lustig.“

„Es war nie lustig“, sagte Gabriel. Seine Stimme, leise aber bestimmt, überraschte ihn selbst.

„Nein“, stimmte der Kohlefresser zu. „Das lernen manche langsamer als andere.“

Gabriels Sicht wurde langsam schärfer – es war zu dunkel, um viel zu erkennen, aber er konnte Bewegung in der Schwärze sehen.

„Hörst du?“

Ein Krächzen, leise und weit entfernt, als der Riegel an der Tür sich löste.

Etwas berührte seine Brust. Er zuckte zurück.

Heiser lachte es in der Dunkelheit. „Ruhig Blut, Junge“, sagte der Kohlefresser. „Was kann es hier unten Schlimmeres geben als mich?“

Etwas packte Gabriel an der Schulter, wirbelte ihn herum und schubste ihn vorwärts. Er stolperte und fing sich mit den Händen am harten Metall der Kellertüre, und sie öffnete sich, und er landete auf den Knien auf der Treppe im Hof. Sonnenlicht brannte in seinen Augen. Nur halb konnte er erkennen, wie die älteren Kinder bleich wurden, wie sie davon stoben, wie sie sich gegenseitig beiseite schubsten, um als erste seinem Anblick zu entkommen.

Er kniete auf seinen aufgeschürften Schienbeinen und fragte sich, ob er dort unten selbst zum Kohlefresser geworden war, und der Gedanke ließ ihn erschaudern, aber auch schnauben. Gabriel, der Kinderschreck. Es könnte schlimmeres geben.

Erst, als Gabriels Augen sich wieder ans Tageslicht gewöhnt hatten, sah er den schwarz-staubigen Schriftzug auf seinem weißen Hemd.

SCHICKT DIE ANDEREN

Er rieb mit der Fingerspitze über die pechschwarzen Kohlespuren. Seine Mutter würde so schimpfen.

Aber seltsamerweise machte ihm der Gedanke nicht so viel aus wie sonst. Er ging gemächlich nach Hause und entschuldigte sich für die verdreckte Kleidung und zuckte die Achseln, als sie ihn ungläubig fragte, was er denn nur gemacht hätte.

Er war noch immer ein ängstlicher Junge. Natürlich. Er fürchtete sich vor den hohen Baumwipfeln und vor den Autos auf der Straße, die ihn zu Brei fahren würden, wenn er sie nur ließe. Der alte Mann mit seinem Besen ließ ihn weiterhin erschaudern. Er bekam noch immer Angst, wenn seine Eltern laut wurden.

Aber er fürchtete sich nicht mehr vor den älteren Kindern, die stets Reißaus nahmen, wenn sie ihn um eine Straßenecke kommen sahen. Sie taten lässig dabei, standen langsam auf, stießen sich beiläufig an; aber immer, wenn Gabriel sich ihnen näherte, hatten sie plötzlich dringend woanders zu sein.

Und er fürchtete sich nicht mehr vor der Dunkelheit. Er wusste ja, was dort unten lauerte. Der Kohlefresser hatte ihn gehen lassen, und er hatte recht gehabt – was konnte es in der Finsternis schlimmeres geben als ihn?

Anders als die Kinder, die ihn im Keller eingesperrt hatten, mied Gabriel den Hof nicht. Er spielte mit den anderen Schülern und zuckte nur selten zusammen, wenn jemand den Ball in seine Richtung trat. Beim Verstecken spielen war er einer der Besten, denn er musste sich nur auf die Treppe zum Kohlekeller setzen – dort trauten die anderen sich nicht mehr hin. Und manchmal, wenn er einen Moment alleine war, öffnete er die schwere Türe einen Spalt und rief einen Gruß in die Dunkelheit.

Ein dumpfes Grollen antwortete ihm.