Dezember – Gute Freunde

Der letzte Song des Jahres ist „White Winter Hymnal” von den Fleet Foxes. Dazu gibt es Geschichten (Mikki von Carola Wolff, Destination von C. A. Raabe und Drachenrose von Maike Stein) und auch die letzte Montagslesung dieses Jahr am 27. 12., 20 Uhr auf Twitch!

Damit endet der phantastische Montag für 2021. Dazu kommt außerdem die Nachricht, dass dieses meine letzte ‘offizielle’ Montagsgeschichte sein wird. Das Projekt wird jedoch weiterbestehen und ohne Zweifel noch viele spannende, wundersame, phantastische Geschichten hervorbringen. Schaut gerne bei der Lesung vorbei, meldet euch auf den sozialen Medien, und kommt gut ins neue Jahr!


Gute Freunde

Mit eng verschränkten Armen stapfte Ivo durch den Schnee. Knöcheltief lagen die Wege und Felder darunter begraben, und nur seine Felle schützten ihn vor den kalten Flocken, die immer wieder von oben auf ihn niederrieselten. Die Mauer des alten Friedhofs brach den Wind, aber nicht die Kälte, und er nieste.

„Gesundheit“, sagte jemand.

Als er den Kopf hob, kam ihm eine Frau entgegen. Eine überaus hübsche Frau, fand Ivo, mit langen roten Zöpfen und, trotz der Kälte-rauen Wangen, einem Lächeln auf den Lippen. „Hallo Ivo“, sagte sie.

Ivo kannte sie. Sie hatte ihm auch schon ihren Namen gesagt – mehrmals – aber er hatte ihn nicht behalten. Üblicherweise begegneten sie sich sehr früh am Morgen, wenn Ivo übermüdet und zerzaust nach Hause schlich, und dann brachte er meist wenig mehr als rote Augen und unwilliges Knurren zustande.

Dieses Mal war er klar genug, um sich an sie zu erinnern. Er wurde rot.

Sie hatte einen Korb auf einer Hüfte, und lange Röcke, und einen Schal um ihren Kopf gebunden. „Und?“, fragte sie. „Hast du schon Pläne für heute Abend? Für Neujahr?“ ergänzte sie, als Ivo sie bloß ansah.

Er schüttelte den Kopf. Er würde den Abend mit seinen Freunden auf dem Friedhof verbringen, vermutete er. Wie immer.

Sie schob den Korb auf die andere Hüfte. „Du könntest zu mir kommen“, sagte sie. „Ich habe auch noch nichts vor.“

Ivo sah sie heimlich an. Bisher war sie immer sehr freundlich zu ihm gewesen, auch wenn er nur unverständliches Grummeln zustande gebracht hatte. Und sie war wirklich hübsch. Er nickte.

„Sehr gut.“ Sie zeigte ins Tal. „Ich wohne in der alten Mühle am Fluss. Komm vorbei, wie es dir passt.“ Als sie sich auf dem schmalen Weg an ihm vorbeischob, strich sie mit den Fingern über das Fell auf seinen Schultern. „Bring mit, was dir heute wichtig ist“, sagte sie mit einem Augenzwinkern. „Das Notwendige habe ich da.“

Ivo sah ihr nach, wie sie, Korb auf der Hüfte, den Hügel hinunterschlenderte. Über ihm miaute etwas, und als er aufsah, blickte die bandagierte Katze von der Friedhofsmauer auf ihn herab. „Hol die anderen“, sagte er ihr, obwohl sie niemals tat, was er ihr befahl. Damit hatte er nicht gerechnet. Er brauchte jetzt dringend etwas Rat.


Ivo hatte seine Freunde auf dem Friedhof kennengelernt – nach der Beerdigung, als alle anderen nach Hause gegangen waren und nur noch er, ganz alleine, zwischen den schmalen Gräbern zurückblieb.

Luna hatte sich zu ihm gesetzt, während er heulend auf einer Grabplatte saß. Ivo hatte es nicht einmal fertiggebracht, sich zu erschrecken, so verzweifelt war er gewesen. Und sie hatte sich auch nicht vor ihm gefürchtet, sondern still an seiner Seite gesessen, bis er sich beruhigt hatte. Als er schniefend die Soße von der Nase wischte, hatte sie ihn sogar angelächelt.

„Das wird schon wieder“, hatte sie gesagt. Mit einer blassen Hand wies sie über die groben Steine in dem kleinen Hof. Ivo konnte dunkle Gestalten in den Schatten sehen. „Wir haben immer noch uns.“

Sie trug ein weites, wallendes Kleid mit so vielen Unterröcken, dass sie kaum neben ihm auf die Steinplatte passte. Schleifen und Rüschchen ergossen sich über den dunklen Marmor.

„Viktorianisch?“, hatte Ivo sie gefragt.

Luna hatte an sich hinab geschaut. „Cosplay.“ Sie winkte die anderen herbei – erst einen Kerl namens Jeff, dessen Rippen durch sein grünliches Fleisch hervor lugten. Als er Ivo forsch die Hand hinstreckte, fiel einer seiner Finger in das trockene Gras. Ein Skelett kam zögerlich aus dem Schutz der Mauer hervor, dicht gefolgt von einer Katze, die über und über in Bandagen gewickelt war. Nur die grünen Augen blitzten zwischen den Stoffen.

Ivo strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Seid ihr auch alleine?“, fragte er.

Jeff fischte seinen Finger vom Boden und steckte ihn wieder an seinen Platz. „Nein“, sagte er mit gerunzelter Stirn. „Und du bist es auch nicht mehr.“


Der alte Friedhof lag außerhalb der Tore der Stadt, an milden Hügeln und einer einsamen, schmalen Straße. Im Gänsemarsch trabten sie durch das quietschende Tor. Das Skelett ging vorneweg, denn ihm machte es am wenigsten aus, durch die Schneewehen zu schlurfen. Dann kam Luna, die Röcke gehoben. Jeff wollte immer in der Mitte sein, denn er fand, dass er das Sagen hatte, und er beschwerte sich nur ab und zu, wenn Ivo ihm in die Hacken trat.

Die mumifizierte Katze folgte hinterdrein. Ab und zu wurde sie von ihren eigenen Bandagen abgelenkt und verfolgte die schleifenden Bänder durch den unberührten Schnee, aber sie schloss immer wieder zu ihnen auf.

Die Mühle im Tal konnte man schon von weitem sehen. Sie gingen querfeldein, wo man die Spuren der Frau gerade noch in dem ganzen Weiß ausmachen konnte, und der Himmel sich über ihnen spannte wie ein wolkenverhangener Regenschirm. Ivos Atem dampfte. Durch Lunas Umriss hindurch konnte er den Rauch sehen, der aus dem Schornstein der alten Mühle in die Höhe stieg, und er strich sich immer wieder die Haare aus den Augen.

Jeff hatte sich einen Schal um den Hals gebunden. Wie eine Signallampe leuchtete das Rot der Wolle gegen das Weiß des Schnees; das Grau des Himmels. Eigentlich wollte er damit verhindern, dass sein Schädel von seinen Schultern kippte, aber es sah auch wirklich wunderbar festlich aus.

Ivo stieß ihn mit dem Ellenbogen an. Er meinte es freundschaftlich, doch er hatte wohl wie so oft die eigene Kraft unterschätzt. Jeff wurde zur Seite gestoßen, was seinen Kopf gefährlich ins Wanken brachte, und er packte seinen Schädel mit beiden Händen und sah Ivo finster an.

Ivo sah auf seine pelzigen Pranken hinunter. Jeff war ein knurriger Kerl, aber er war ein guter Freund. Ivo hatte seit seiner Beerdigung keine neuen Leute mehr kennengelernt. Die Frau mit dem Korb war nett, und hübsch, und so gerne bei Vollmond unterwegs wie er. Eigentlich hätte er sich darauf freuen müssen, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, aber stattdessen schlug sein Herz immer schneller, je näher sie der Mühle kamen, und seine Krallen gruben sich immer tiefer in seine Handflächen.

Die Mühle war ein flaches Gebäude mit einem Reetdach, und einem Rad, das im gefrorenen Fluss stillstand.

Luna warf Ivo einen aufmunternden Blick zu. Er räusperte sich und nickte.

Das Skelett klapperte an das verwitterte Holz.

Einen Moment war Stille. Dann öffnete sich die Türe und die Frau, ohne Korb, trat in die Kälte. „Herzlich Willko- oh.“ Ihr Mund, eben noch freundlich lächelnd, blieb offen stehen. „Oh“, sagte sie. „Ähm.“

Ivo winkte. Sein Mund war ganz trocken. „Das sind meine Freunde“, erklärte er. „Luna“ – sie knickste, „Jeff“ – der hob eine Hand, während er mit der anderen noch immer seinen Kopf gerade hielt, „und das Skelett.“ Das rasselte. „Die Katze gehört auch dazu.“

Die Frau hob die Brauen. „Ich glaube, so viel habe ich dich noch nie sagen hören.“

„Machst du dich über ihn lustig?“, fragte Jeff. Er baute sich zu seiner vollen Größe auf – es war nicht furchtbar hoch, denn über die Jahre hatte er immer wieder Knochen verloren – und sah die Frau drohend an. „Vielleicht verrätst du uns lieber erst einmal, was du mit unserem Ivo willst.“

Die Frau musste lachen. „Erst einmal Neujahr feiern“, sagte sie. Sie zwinkerte Ivo zu. „Und dann mal schauen.“ Ihr Blick sprang von Ivo zu Jeff, dann zu Luna und dem Skelett. Kopfschüttelnd hielt sie ihre Türe auf. „Dann kommt mal rein“, sagte sie. Sie winkte das Skelett über die Schwelle. „Vorsicht mit der Kristallkugel“, rief sie ihm hinterher. „Die war teuer!“ Sie lächelte Luna und Jeff freundlich an, doch als Ivo die Katze in die Arme hob und folgen wollte, trat sie ihm in den Weg.

Ivo hielt die Katze fest. „Du hast gesagt, ich kann alles mitbringen, was mir wichtig ist“, murmelte er.

Kurz sah sie ihn verdutzt an. „Gute Freunde sind immer willkommen“, sagte sie dann, und sie lächelte, als meine sie es ernst. Sie lehnte sich ganz nah zu ihm hin und raunte, „Ich heiße übrigens …“