August – Himmelsblau

Im August hat uns “Still” von Jupiter Jones inspiriert. Geschrieben haben dazu: Carola Wolff Das Internet der Dinge, C. A. Raaven Karmunikation und Maike Stein Die Trösterei. Und natürlich gibt es nächste Woche dann einen Gastpost, der dann hier erscheinen wird.


Himmelsblau

Manchmal kommt das Riesenrad in die Stadt.

Schon aus weiter Ferne sieht man, wie die stählernen Streben sich aufrichten; wie die roten und gelben und grünen Gondeln in den grauen Himmel gehievt werden. Schon lange, bevor der Jahrmarkt seine Türen öffnet, sieht man die Höhen des Riesenrads in die Wolken entschwinden, und der Schatten des Rads fällt kilometerweit über die Felder.

Wenn dann die Musik erklingt, strömen sie alle ins Tal hinunter. Von nah und fern kommen die Gäste, um zwischen den Ständen des Jahrmarkts umherzuschlendern. Sie kaufen gestreifte Tütchen mit Süßigkeiten und holzgeschnitzte Spielzeuge für ihre Kleinen und nicken ihren Nachbarn zu, ganz so, als würde nicht jeder Schritt sie näher zum Riesenrad bringen, wie ein Sog, der sie erfasst hat und nicht wieder gehenlässt.

Unten am Fuß des Riesenrads, da wo eine rot gestrichene Bude Tickets verkauft und ein Kontrolleur in Uniform sie sofort wieder entwendet, ganz unten an den gewaltigen Stufen, kann man die Größe des Riesenrads gar nicht recht erkennen. Selbst wenn man den Kopf ganz in den Nacken legt, kann man seine höchste Stelle nicht erspähen. Kinder stehen mit schokoladenverschmierten Gesichtern und starren mit offenen Mündern in die Höhe. Der Kontrolleur schaut wichtig drein, während er die Besucher näher winkt. Er nimmt seine Arbeit ernst.

Hat man erst einmal in einer der bunten Gondeln Platz genommen und den Sicherheitsbügel geschlossen, so hebt das Riesenrad einen mühelos in die Höhe. Man entschwebt den Gefährten, Familie und Freunden – lacht und winkt vielleicht dabei-, dem Jahrmarkt mit seinen Ständen, der Menge und den klimpernden Melodien. Der Geruch von gebrannten Mandeln und der Grillbude und warmem Heu wird vom Wind davongetragen. Die Felder werden kleiner; die Baumspitzen winzig wie Stecknadelköpfe. Man kann bis hinauf zur Landstraße sehen, bis zum nächsten Ort – bis weit in die Ferne, wo Land und Himmel miteinander verschwimmen. Man lässt die Füße baumeln, man lacht und zeigt.

Dann hebt sich die Gondel hinauf in den feinen Dunst der Wolken; durch grauweiße Schleier, höher und höher, und wenn man schon fröstelnd die Arme um den Oberkörper legt und sich fragt, ob diese Fahrt denn nie ankommen möge, so sieht man die Sonne durch den grauen Schleier und den regenbogenfarbigen Ring, der sie umhüllt.

Und dann, gemächlich, langsam, hebt die Gondel sich in den blauen Himmel. Von oben sind die Wolken weiß, nicht grau, und die anderen Fahrgäste scheinen weit entfernt und unwichtig.

Und alles ist still. Kein Geplauder, kein Vogelgeschrei, kein rauschender Wind. Man ist allein im Meer des blauen Himmels und man legt den Kopf in den Nacken und spürt die Wärme der Sonne auf der Haut.

Hier oben ist alles einfach. Hier oben kann man die Arme ausbreiten und die Luft unter ihnen spüren, als wären sie Flügel. Man kann sein Lachen mit dem Wind vermengen und es mit ihm fortziehen lassen, in eine bessere Welt, in der alles möglich ist. Man streckt die Hände und die Füße ins ewige Blau und man fühlt sich, als könne man die Unendlichkeit berühren.

Lautlos beginnt die Gondel zu sinken. Erst merkt man es kaum, bis man dann dieses Gefühl im Magen verspürt, und dann ist es schon zu spät. Das Riesenrad dreht sich unaufhörlich weiter. Manch einer wendet sich um, bringt die Gondel ins Wanken, blickt sehnsüchtig zum Zenit zurück, doch dort erhebt sich bereits eine andere Gondel ins Licht. Die eigene senkt sich erbarmungslos dem Erdboden zu, langsam doch unaufhaltsam. Hinab durch die kalten Wolken, zu dem Flickenteppich von Wiesen und Wäldern, hinunter zum Jahrmarkt, wo der Kontrolleur mit einem mitfühlenden Lächeln den Sicherheitsbügel löst und bittet, auszusteigen.

Benommen stehen sie da, die Reisenden. Es erscheint ihnen unwirklich; die gleiche Jahrmarktsdudelei, die weinenden Kinder und die Rufe der Verkäufer und die Gerüche, die hier zusammenprallen. Sie verstehen nicht, wie hier unten noch alles beim Alten sein kann, wenn sie doch dort oben die Unendlichkeit erspürt haben.

Manche gehen gebeugt von dannen, denn sie wissen genau, dass das Riesenrad nicht von Dauer ist. Es wird noch ein paar Tage bleiben, vielleicht ein paar Wochen. Es wird noch viele Gondeln durch die Wolken drehen und noch viele Menschen in den Himmel heben. Aber unweigerlich wird es weiterreisen. Die bunten Lichter werden aus dem Nachthimmel schwinden und das stählerne Gerippe wird zu Boden sinken und das Rad wird weiterziehen.

Eines Tages wird es wiederkommen, denn es ist bisher jedes Mal wiedergekommen – die Gondeln in anderen Farben gestrichen, vielleicht, der Ticketkontrolleur ein Fremder, aber das Riesenrad kehrt zurück.

Doch die Zeit dahin scheint oft unfassbar lang. Was, wenn man bis dahin fortgezogen ist? Was, wenn man alt und grau geworden ist und die brüchigen Knochen dem Riesenrad nicht mehr standhalten? Was, wenn das Leben einem wie so oft einen Strich durch die Rechnung macht und man nie wieder in den Himmel zurückkehren kann?

Aber nicht alle schleichen so von dannen. Zwischen den gebeugten Gestalten gibt es solche, die aufrecht durch die Menge schreiten, mit erhobenem Haupt und einem Lächeln auf den Lippen. Auch wenn sie hoffen, dass dies nicht ihre letzte Fahrt auf dem Riesenrad war, so trauern sie ihm nicht nach. Sie fürchten sich nicht davor, es zurückzulassen. Denn sie wissen, sie tragen in sich, für immer, ein Stückchen Ewigkeit.