Mai – Der Schneckenbändiger

Der Mai stand beim #phantastischenMontag ganz im Zeichen von It’s a Wonderful World von Louis Armstrong. Carola Wolff schrieb dazu Wonderful World, C. A. Raaven Wahltag und Maike Stein Vielleicht noch nicht. Und außerdem kam von Bettina Kerwien der erste Gastbeitrag des Jahres: Entfernte Verwandte. Viel Spaß beim Lesen!

Content Notice: Implizierte Gewalt


Der Schneckenbändiger

Die Schnecke war fast so groß wie seine Hand. Nun hatte Juli auch kleine Hände, klein und weich und nicht rau und aufgeschürft wie die der Erwachsenen, aber die Schnecke war trotzdem die größte, die er je gesehen hatte. Ohne seine Anwesenheit zu beachten, schob sie sich neben dem Eingang der Gasse, an der Juli Wache stand, an der Häuserwand empor; Krümmung um Krümmung, Zentimeter um Zentimeter.

Ihr Haus war mit neonfarbenen Schlieren bedeckt – pink und blau, mit kaum sichtbaren grünen Sprenkeln, und dunklen Tupfen auf ihrem langen Körper. Vielleicht leuchtete sie im Dunkeln. Wenn Rolf nachts schnarchte und Juli nicht schlafen konnte, beobachtete er die Schnecken an der Schlafzimmerdecke und malte sich aus, sie wären Sterne.

Irgendwo heulten Sirenen.

Rolf war noch nicht wieder da, obwohl er hoch und heilig versprochen hatte, dieses Mal nicht so lange zu brauchen.

Die Schnecke war jetzt fast auf einer Höhe mit Julis Kopf. Sie war seitlich abgebogen und näherte sich langsam der Hausecke. Sie zuckte nicht zurück, als Juli ganz sanft, ganz behutsam, ihr Haus anfasste. Langsam drehte sie einen Fühler in seine Richtung.

Juli zog vorsichtig. Langsam, Stückchen für Stückchen, löste die Schnecke sich von der Mauer. Sie rollte sich ein wenig zusammen, zog sich jedoch nicht völlig in ihr Haus zurück, und als er sie vollständig vom Beton abgelöst hatte, reckte sie neugierig ihre Fühler in die Luft um sie herum.

Juli lächelte. Er mochte die grauen Gebäuderiesen der Innenstadt, denn auf ihren gleichförmigen Wänden leuchteten die Schnecken besonders hervor. Er mochte die unebenen Straßen, in deren Löchern hartnäckige Blumen blühten, und die grell-farbigen Sonnenuntergänge, die sich in den zerschlagenen Fensterfronten der alten Hochhäuser spiegelten.

Wieder hörte er Sirenen, außerdem Geschrei.

Behutsam setzte Juli die Schnecke auf seine Handfläche. Dass sie sich erschrocken in ihr schillerndes Haus verkroch, störte ihn nicht. Er musste nur lange genug Geduld haben, dann würde sie ihr leuchtendes Köpfchen schon wieder vorzeigen.

Rolf packte ihn unter den Armen. „Komm, komm“, zischte er.

Er schwang Juli so hastig auf sein Motorrad, dass Julis Beine nur so flogen, und zwängte sich hinter den Lenker. „Halt dich gut fest!“, rief er über den aufheulenden Motor hinweg.

Juli presste sich an Rolfs Rücken, an das kühl-klebrige Leder seiner Jacke, und ließ den Fahrtwind durch seine Haare jagen. Die Schnecke hielt er dabei sicher in seinen schützend zusammengepressten Händen.


Sie saßen beim Abendessen, Nudeln mit Soße aus dem Glas auf dem schmalen, wackeligen Tisch mit dem Linoleum, als sich die Tür öffnete. Juli kannte Rolfs Bande – die breiten, dunkel gekleideten Kerle mit den finsteren Gesichtern – aber er wusste nicht wie sie hießen. Sie redeten nicht mit ihm. Sie sahen ihn nur böse an.

Rolf setzte sich gerader auf. Er sagte nichts, aber Juli spürte, wie sein ganzer Körper steif wurde. Wie er sich immer breiter machte, als die Gruppe den Raum füllte. Er schob die Schüsseln mit den Nudeln beiseite. Seine Hände zitterten dabei.

Einer der Kerle ließ seine Faust in Julis Richtung zucken, und Juli legte schützend die Hand über die Schnecke auf seinem Arm.

Rolf sah den Kerl böse an. „Lass ihn in Ruhe.“

Der Kerl starrte zurück.

Nach einem Moment, als endlich keine Leute mehr durch die Türe strömten, berührte Rolf Julis Hand. „Warte im Schlafzimmer, hm?“

Juli ging langsam. Im Türrahmen blieb er noch einmal stehen. Die Schnecke auf seinem Arm streckte ihre Fühler aus; kühl, fast gewichtslos lag sie auf seiner Haut.

Der Raum war voll mit Menschen. Die Tapete blätterte von den Wänden und die Fensterscheiben waren mit dunkler Farbe bemalt und überall standen große, breite Männer mit verschorften Knöcheln.

Rolf war der einzige, der lächelte. „Geh‘ schon, Kleiner“, sagte er, und dann schob einer der Kerle die Tür vor Juli zu.


Er legte gerade seine Schnecken in eine bunt schimmernde Spirale, als es an der Tür klopfte. Juli mochte es, wenn die Farben Muster bildeten, und er glaubte, die Schnecken mochten es auch. Zumindest befühlten sie sich immer mit ihren kleinen Antennen, bevor sie sich wieder aus der Form bewegten – einen Moment der Ruhe, bevor das Leben wieder auseinander strömte.

„Stör‘ ich?“ Rolfs Lächeln war verkrampft. Er hielt den Arm seltsam steif, als er sich in den Raum schob, und trat mit einem Fuß nur widerwillig auf. „Sie sind wieder weg, Kleiner, alles gut.“

Juli sah auf seine Schnecken hinunter. Schon jetzt hatte sich die Spirale wieder aufgelöst. Es würde keinen Sinn machen, sie wieder zusammenzulegen – wenn die Schnecken erst einmal auf ihrem Weg waren, konnte er sie nicht mehr aufhalten.

Er konnte es nicht aufhalten.

„Entspann‘ dich, Kleiner, ja?“ Rolf lächelte dünn. Er setzte sich auf Julis quietschendes Bett und lehnte seinen Kopf gegen die raue Tapete. „Du hast ein paar neue, oder? Zeig mal her.“

Juli brachte ihm seinen Liebling, eine schmale, zierliche Schnecke mit einem gelb-grün gemusterten Haus. Rolf verzog das Gesicht, als die Unterseite der Schnecke seine Hand berührt, aber er lächelte, als er Juli ansah. „Hübsch“, sagte er. „Guter Fund, Kleiner.“

Juli sah ihn prüfend an. Er legte seine Hand auf Rolfs Brust, um ihn an Ort und Stelle zu halten, und machte ein ernstes Gesicht.

Rolfs Lächeln verzerrte sich. „Sitzen bleiben ist nicht das Problem“, hörte Juli ihn murmeln.

Er schaltete das Licht aus.

Juli wusste, dass Rolf die Schnecken in ihrem Schlafzimmer etwas argwöhnisch betrachtete. Er stellte zwar Fragen und machte interessierte Geräusche und schlich auf Zehenspitzen durchs Zimmer, um nicht auf ihre zerbrechlichen Häuser zu treten, aber er hatte sich das so nicht ausgesucht. Er hatte noch nie wachgelegen und sich gefragt, ob vielleicht so der Nachthimmel aussah, über den niedrig hängenden Abgasschwaden und den gelblichen Lichtern der Stadt.

„Oh Juli“, hörte er Rolf murmeln.

Vorsichtig kletterte Juli neben ihn aufs Bett.

Seine Schnecken waren im ganzen Zimmer; auf den Möbeln, an der Decke. Die grauen Wände, rissig und feucht, waren der perfekte Kontrast – ein Untergrund, auf dem die Schnecken sich gerne bewegten; auf dem die Farben ihrer Häuser leuchteten wie sonst nirgendwo auf der Welt. Im Dunkel des Zimmers, nur unterbrochen von den dünnen Lichtfäden, die von draußen durch die Risse in der Farbe auf den Scheiben drang, glitzerten und schimmerten sie. Grün und blau und lila und pink leuchteten sie, und je länger man hinsah, desto bunter wurden sie, desto mehr wurden sie, bis die Wände des Zimmers verschwanden und man allein war mit dem Lichterschein, mit dem Schimmern das bis in die Unendlichkeit reichte, und einem nichts mehr etwas anhaben konnte.

Rolf zuckte zusammen, als Juli sich an seine Seite lehnte, aber er legte seinen Arm um Julis Schultern und lächelte. „Es ist wunderschön, Kleiner.“ Er legte seinen Kopf auf Julis, sodass sein Kinn auf Julis Haaren ruhte. „Wunderschön“, flüsterte er.