Juni – Mondnacht

Der Juni geht zu Ende – Mittsommer ist vorbei, 2021 schon halb herumgegangen. Wir lassen uns zur Jahreshälfte von Jason Mraz’ “Bella Luna” inspirieren: Carola Wolff schrieb Die Mondscheinprinzessin, C. A. Raaven Bestimmung und Maike Stein Mondverzaubert. Lasst euch von uns in die Nacht entführen …


Mondnacht

Wenn ich wieder einmal verlassen werde – wenn ich auf meinem Balkon sitze, mit einer Tasse Beruhigungstee in einer Hand und einem Taschentuch in der anderen – und hinauf in den Nachthimmel schaue, dann male ich mir Folgendes aus:

Der Vollmond, strahlend schön und weiß und glänzend, ist an allem schuld. Nein, es ist nicht die Kommunikation, an der es gescheitert ist, oder meine schlechten Angewohnheiten, oder die Tatsache, dass ich nicht alle Verantwortung auf mich nehmen will, sondern auch mal selber Finger zeige, sondern der Mond. Die Mondgöttin, die strahlend dort oben am Himmel erscheint, und meine Peters und Sebastians und Ferdinands haben einen unvorsichtigen Blick zu den Sternen geworfen und sich unsterblich in sie verliebt. Mit dieser Vorstellung tröste ich mich dann. Denn es ist etwas anderes, für eine Mondgöttin verlassen zu werden als für Janina aus der Statistik-Vorlesung oder Michael aus dem Comic-Laden oder Laura aus der Nachbarwohnung.

Meine ehemaligen Beziehungen, meine zerbrochenen Beziehungen, wie könnten sie dem Sog einer Mondgöttin standhalten?

Und so sitze ich auf meinem Balkon und halte meine Lippen fest verschlossen, um die Nachbarn nicht zu stören, und sehe hinauf in das gleißende Licht. Ich male mir aus, wie meine vergangenen Liebsten der Mondgöttin Gaben bringen; wie sie Blumen ins Tau-feuchte Gras legen und Schmuck und teure Schokoladen: wie sie in der Dunkelheit ihre Liebe gestehen, sodass die Nacht ihre schamroten Wangen versteckt, und die Göttin bitten, sie zu erhören.

Und die Mondgöttin, weise und fein, steigt aus dem Himmel herunter. Sie setzt ihre schönen Füße auf Wolken und Baumspitzen und die Blüten der Fliederbüsche und steigt hinunter ins Tau-glitzernde Gras und streicht mit den Fingerspitzen über ihre heißen Schläfen, so federleicht wie ein Windhauch. Sie greift nach ihren Händen und ihre Finger schließen sich um die menschlichen Pranken und die Herzen ihrer Verehrer schlagen so wild, wie sie noch nie in ihrem Leben geschlagen haben, und die Mondgöttin lächelt still.

Sie trägt sie hinauf: In die blauschwarze Nacht, durch die silbern glänzenden Wolken, hoch über die Städte und Felder und Berge, wo von all den Menschen auf dieser Erde nur noch goldglimmende Lichter zu sehen sind; Laternen, mit denen sie ihre Einsamkeit in die Weite senden. Die Mondgöttin hält sie an der Hand und zeigt ihnen all die Schönheiten dieser Welt; die dunklen Felder, die Berge, die weiten Ozeane, deren Schwärze mit Silber gekrönt ist. Die Vielfalt des Lebens, welches sich erst im Dunkeln aus seinen Verstecken traut; die Nachtfalter, die sich an den duftenden Blüten der Sommerflieder laben; die Nager und Igel und Dachse, deren Rascheln im Untergrund das einzige Zeugnis ihrer Anwesenheit ist; die Menschen, die sich in der Dunkelheit am wohlsten fühlen – die auf ihren Balkonen sitzen und andächtig in den dunklen Himmel schauen, als wäre die Nacht größer und schöner und wahrhaftiger als all die Wunder dieser Erde.

Und wenn am Horizont die Helligkeit ihre Finger ausstreckt und die Zeit der Mondgöttin zu Ende geht, dann bringt sie meine Ehemaligen zur Erde zurück. Sie sagt ihnen, dass sie geschmeichelt sei von ihrer Zuneigung, aber dass sie niemals jemanden lieben würde, der mich derart verletzen könne. Und dann steigt sie zurück hinauf zu den Sternen, in die funkelnde Weite, und lässt sie mit hängenden Köpfen zurück. Denn die Liebe mag nicht zärtlich zu mir sein, mag rau zu mir sein und mich jedes Mal aufs Neue allein zurücklassen, aber meine Mondgöttin nicht. Sie versteht mich – sie verlässt mich nicht.

Und wenn ich so auf meinem Balkon sitze, mit geschwollenen Augen und zerzausten Haaren und zusammengeballten Händen, wenn ich so in der Dunkelheit sitze und in den glitzernden Nachthimmel schaue, dann bin ich immer noch allein und der Mond ist nicht mehr als eine helle Scheibe am Himmel. Aber wie kann ich einsam sein, wenn ich doch die Mondgöttin auf meiner Seite habe?

So jedenfalls stelle ich es mir dann vor.